BVerwG 1 C 2.17 , Beschluss vom 17. April 2019 | Bundesverwaltungsgericht
Beschluss
BVerwG 1 C 2.17 VG Wiesbaden - 21.07.2015 - AZ: VG 2 K 1757/14.WI.A VGH Kassel - 04.11.2016 - AZ: VGH 3 A 1322/16.A
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. August 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke, Dr. Rudolph und
Dr. Wittkopp
beschlossen:
Das Verfahren wird ausgesetzt. Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt: 1. Ist ein Mitgliedstaat (hier: Deutschland) unionsrechtlich gehindert, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Bulgarien) in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. der Vorgängerregelung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG als unzulässig abzulehnen, wenn die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge, in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat (hier: Bulgarien), a) nicht den Anforderungen der Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU entspricht und/oder b) gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstößt? 2. Falls Frage 1 a oder b zu bejahen ist: Gilt dies auch dann, wenn a) anerkannten Flüchtlingen im Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Bulgarien) keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen gewährt werden, sie insoweit aber nicht anders behandelt werden als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates, b) anerkannte Flüchtlinge eigenen Staatsangehörigen in den Existenzbedingungen zwar formalrechtlich gleichgestellt sind, sie aber faktisch erschwerten Zugang zu den damit verbundenen Leistungen haben und es an einem entsprechend dimensionierten und den besonderen Bedürfnissen des betroffenen Personenkreises gerecht werdenden Integrationsprogramm fehlt zur Sicherstellung einer faktischen Inländergleichbehandlung? Gründe I
1 Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig.
2 Der Kläger, ein 1978 geborener syrischer Staatsangehöriger, reiste Mitte 2014 in das Bundesgebiet ein, nachdem er zuvor in Bulgarien als Flüchtling anerkannt worden war. Im Juli 2014 stellte er im Bundesgebiet einen (weiteren) Asylantrag. Am 31. Juli 2014 fand ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats statt, in dem der Kläger angab, dass er auf dem Landweg über die Türkei und Bulgarien nach Deutschland gekommen sei und in Bulgarien Asyl beantragt oder zuerkannt bekommen habe. Er wolle in Deutschland bleiben, weil er hier leben wolle. Im Anschluss daran fand eine "Befragung zur Vorbereitung der Anhörung gemäß § 25 AsylG" statt; in einem ihm ausgehändigten Fragebogen wurde ihm weiterhin Gelegenheit gegeben, in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für sein Schutzersuchen in Deutschland darzulegen.
3 Ein Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte die bulgarische Flüchtlingsbehörde im Oktober 2014 unter Hinweis darauf ab, dass dem Kläger in Bulgarien am 13. April 2014 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Daraufhin lehnte das Bundesamt ohne weitere Anhörung den Antrag mit Bescheid vom 24. November 2014 als unzulässig ab (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Bulgarien an (Ziffer 2). Der Antrag auf Durchführung eines erneuten Asylverfahrens sei aufgrund seiner Einreise aus Bulgarien, einem sicheren Drittstaat, abzulehnen.
4 Das Verwaltungsgericht wies die Klage gegen diesen Bescheid mit Urteil vom 21. Juli 2015 ab. Der Verwaltungsgerichtshof hob mit Urteil vom 4. November 2016 das Urteil des Verwaltungsgerichts sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. November 2014 auf und verpflichtete die Beklagte zur Durchführung eines Asylverfahrens. Zur Begründung wurde ausgeführt, bei unions- und menschenrechtskonformer Auslegung stünden § 60 Abs. 1 AufenthG und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG der Durchführung eines Asylverfahrens im Bundesgebiet nicht entgegen, weil das Asylsystem in Bulgarien hinsichtlich anerkannter Flüchtlinge unter systemischen Mängeln leide. Zwar verspreche die (Anerkennungs-)Richtlinie 2011/95/EU hinsichtlich der Existenzbedingungen für Schutzberechtigte in der Regel nur eine Inländergleichbehandlung. Hierzu bedürfe es unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aber eines entsprechend dimensionierten und den besonderen Bedürfnissen des betroffenen Personenkreises gerecht werdenden Integrationsprogramms, das die Inländergleichbehandlung faktisch und nicht nur formalrechtlich sicherstelle. Andernfalls könnten Schutzberechtigte in einem anderen Mitgliedstaat ein neues Schutzgesuch stellen. Es wäre systemwidrig, die Rückführung eines Asylsuchenden in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel für unzulässig zu erklären, einem dort anerkannten Flüchtling jedoch die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat zu verweigern und ihn damit von den mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Aufenthalts- und Teilhaberechten dauerhaft auszuschließen. Bulgarien verletze in fundamentaler Weise seine Verpflichtungen aus Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU. Es fehle nach wie vor an einem funktionierenden und ausreichend finanzierten Integrationsprogramm für anerkannte Schutzberechtigte. Da der Kläger weder nach Syrien noch nach Bulgarien abgeschoben werden könne, sei ihm die Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland zu ermöglichen. Nur so könne er in den Genuss der ihm als Flüchtling zustehenden Aufenthalts- und Teilhaberechte gelangen.
5 Hiergegen richtet sich die Revision der Beklagten. Sie macht geltend, die zur Nichterfüllung der Mindeststandards im Hinblick auf die Lebensverhältnisse anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien vorgebrachten Argumente rechtfertigten nicht die Durchführung eines (weiteren) Asylverfahrens, sondern seien bei der Prüfung nationaler Abschiebungsverbote und bei einer Abschiebungsverfügung, die hier zurückgenommen worden sei, zu berücksichtigen. II
6 Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union - Gerichtshof - zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. Diese Fragen, die der vorlegende Senat dem Gerichtshof mit Beschluss vom heutigen Tag in einem weiteren Verfahren - 1 C 37.16 - unterbreitet hat, betreffen die Auslegung der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung, ABl. L 180 S. 60 - Richtlinie 2013/32/EU) bzw. der ihr vorausgegangenen Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326 S. 13 - Richtlinie 2005/85/EG) sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC). Die Vorlage steht in engem Zusammenhang mit einem weiteren Vorabentscheidungsersuchen des vorlegenden Senats mit Beschluss vom 27. Juni 2017 - 1 C 26.16 - zur Klärung unionsrechtlicher Zweifelsfragen bei der Sekundärmigration anerkannter Flüchtlinge. Sie unterscheidet sich von diesem aber vor allem dadurch, dass die Ausgestaltung des internationalen Schutzes für anerkannte Flüchtlinge im Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Bulgarien) möglicherweise noch größere Defizite aufweist. Das vorlegende Gericht regt eine Verbindung der Rechtssache mit diesem Vorabentscheidungsersuchen an und ersucht den Gerichtshof um eine einheitliche Verfahrensbehandlung.
7 1. Die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens richtet sich im nationalen Recht nach dem Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798) und dem Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), beide zuletzt geändert mit Wirkung vom 29. Juli 2017 durch das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2780). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG regelmäßig auf die aktuelle Rechtslage abzustellen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist. Dazu gehört auch die während des gerichtlichen Verfahrens durch das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) mit Wirkung vom 6. August 2016 geschaffene Neufassung des § 29 Abs. 1 AsylG.
8 Den hiernach maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtsstreits bilden die folgenden Vorschriften des nationalen Rechts:
9 § 29 AsylG
(1) Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn
(...)
2. ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 gewährt hat,
(...)
10 § 35 AsylG
In den Fällen des § 29 Absatz 1 Nummer 2 und 4 droht das Bundesamt dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war.
11 § 77 AsylG
(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. (...)
12 § 25 AufenthG
(...)
(3) Einem Ausländer soll eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 vorliegt. Die Aufenthaltserlaubnis wird nicht erteilt, wenn die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist oder (...).
(...)
13 § 60 AufenthG
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(...)
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(...)
14 Art. 2 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (BGBl. 1994 II S. 2645)
Die Verantwortung gilt nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Zweitstaat mit Zustimmung von dessen Behörden oder zu einem früheren Zeitpunkt als übergegangen, wenn der Zweitstaat dem Flüchtling gestattet hat, entweder dauernd oder länger als für die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben.
15 Diese Zweijahresfrist beginnt mit der Aufnahme des Flüchtlings im Hoheitsgebiet des Zweitstaats oder, lässt sich dieser Zeitpunkt nicht feststellen, mit dem Tag, an dem er sich bei den Be