BVerwG 4 C 6.15 , Urteil vom 22. September 2016 | Bundesverwaltungsgericht
Urteil
BVerwG 4 C 6.15 VG Regensburg - 17.10.2013 - AZ: VG RO 7 K 12.1702 VGH München - 18.09.2015 - AZ: VGH 22 B 14.1263
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2016
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz, Petz, Dr. Decker und Dr. Külpmann
für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. September 2015 wird zurückgewiesen. Auf die Anschlussrevision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. September 2015 aufgehoben. Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Von den Kosten des Revisionsverfahrens trägt der Beklagte 3/4. Alle Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung der Schlussentscheidung vorbehalten. Gründe I
1 Die Klägerin begehrt eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung für eine Windenergieanlage. Der geplante Standort liegt auf einer Anhöhe südöstlich des Ortsteiles N. der Nachbargemeinde, der Beigeladenen zu 2, in dem sich der nächstgelegene Immissionsort in einer Entfernung von ca. 630 m befindet. Ca. 11,5 km nördlich betreibt der Deutsche Wetterdienst (DWD) der Beigeladenen zu 3 seit 1997 die Wetterradaranlage "...".
2 Im Rahmen der Anhörung der Träger öffentlicher Belange erhob der DWD Einwendungen gegen das Vorhaben. Ablehnende Stellungnahmen gaben unter anderem auch die Beigeladene zu 2 als Nachbargemeinde wegen der Nähe des Vorhabenstandorts zu ihrem Ortsteil N., das für den Denkmalschutz zuständige Sachgebiet beim Landratsamt S. und das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege sowie die Untere Naturschutzbehörde ab.
3 Das Landratsamt lehnte den Genehmigungsantrag ab. Der DWD habe nachvollziehbar dargelegt, dass die Windenergieanlage die Funktionsfähigkeit seiner Wetterradarstation stören werde.
4 Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte überwiegend Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat den Beklagten verpflichtet, über den Genehmigungsantrag der Klägerin nach der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Dass die Windenergieanlage die Wetterradaranlage technisch nachteilig beeinflussen werde und diese Beeinflussung nicht ohne Weiteres beseitigt werden könne, sei unstreitig. Nicht jede nachteilige Beeinflussung sei aber zugleich eine "Störung der Funktionsfähigkeit" im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 BauGB, die der Genehmigung einer privilegierten Windenergieanlage als öffentlicher Belang entgegenstehen könne. Eine rechtserhebliche Störung der Funktionsfähigkeit der Radaranlage setze vielmehr voraus, dass die Erzielung der gewünschten Ergebnisse, hier der Warnprodukte des DWD, verhindert, verschlechtert, verzögert oder spürbar erschwert werde. Ob eine derartige Störung vorliege, sei gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar. Ein Beurteilungsspielraum komme dem DWD weder bezüglich der Frage zu, ob überhaupt eine Störung vorliege, noch in Bezug auf das "Entgegenstehen" dieser Störung. Im vorliegenden Fall sei im Allgemeinen allenfalls eine geringfügige Störung der Funktionsfähigkeit des Wetterradars des DWD zu erkennen, aber keine solche, die das Gewicht eines entgegenstehenden Belangs hätte. Auch bei Betrachtung kleinräumiger und kurzlebiger, aber extremer Wetterereignisse seien im Allgemeinen keine Anhaltspunkte für eine Störung der Funktionsfähigkeit des Wetterradars mit spürbaren Auswirkungen auf die Warnprodukte erkennbar geworden. Es könne allenfalls in Grenzbereichen zu Überwarnungen kommen; dass diese mehr als theoretische Nachteile bringen könnten, sei nicht deutlich geworden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne der Verwaltungsgerichtshof nicht ausschließen, dass es in besonderen Ausnahmefällen bei gefährlichen Wetterlagen, die im Einzelfall zu besonders kleinräumigen, kurzlebigen, aber gleichwohl extremen Wetterereignissen führen könnten, zu einer Störung der Funktionsfähigkeit des Wetterradars durch die Windenergieanlage kommen könne. Dies rechtfertige aber nicht die Ablehnung der Genehmigung, sondern nur die Beifügung von Nebenbestimmungen nach § 12 Abs. 1 Satz 1 BImSchG, um die Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen sicherzustellen. Deshalb, aber auch im Übrigen sei die Sache nicht spruchreif. Unter anderem komme in Betracht, dass dem Vorhaben Belange des Denkmalschutzes oder des Artenschutzes entgegenstehen. Dies könne im behördlichen Verfahren geklärt werden.
5 Der Beklagte rügt mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision eine Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) in Zusammenschau mit § 4 DWD-Gesetz, weil der Verwaltungsgerichtshof dem DWD jeglichen Beurteilungsspielraum abgesprochen, an dessen Stelle über das Vorliegen einer Störung der Wetterradaranlage entschieden und damit seine Prüfungskompetenz überschritten habe. Infolgedessen sei der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der nachvollziehenden Abwägung zu rechtsfehlerhaften Schlüssen gekommen. Er habe auch § 12 Abs. 1 Satz 1 BImSchG rechtsfehlerhaft angewandt. Unsicherheiten, die während des Genehmigungsverfahrens auftauchten, dürften nicht auf eine Nebenbestimmung verlagert werden.
6 Die Beigeladenen zu 2 und 3 unterstützen die Position des Beklagten, ohne selbst Revision eingelegt zu haben.
7 Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision. Sie hat Anschlussrevision eingelegt, die sie auf die Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofs zum etwaigen Erlass von Nebenbestimmungen beschränkt. Die Funktionsfähigkeit der Wetterradaranlage sei auch ohne Nebenbestimmungen gewährleistet. II
8 A. Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet.
9 Im Einklang mit Bundesrecht hat der Verwaltungsgerichtshof den Beklagten verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb der streitgegenständlichen Windenergieanlage neu zu entscheiden. Nach den tatrichterlichen Feststellungen steht dem im Außenbereich nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB privilegierten Vorhaben der Klägerin der öffentliche Belang des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 BauGB nicht entgegen.
10 1. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 BauGB ist auf Wetterradaranlagen anwendbar. Der Begriff der "Radaranlagen" ist allgemein gehalten. Weder dem historischen Gesetzgeberwillen noch der Systematik des Gesetzes lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, den Begriff auf Radaranlagen mit militärischen oder sonstigen spezifischen Zweckbestimmungen einzuschränken (wohl a.A. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2016, § 35 Rn. 110a).
11 2. Die Annahmen des Verwaltungsgerichtshofs zum Vorliegen einer Störung gehen von einem zutreffenden Begriffsverständnis aus. Nach seiner Auffassung setzt eine rechtserhebliche Störung der Funktionsfähigkeit nach § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 BauGB voraus, dass die Erzielung der (im Hinblick auf die Aufgabenstellung des DWD) erwünschten Ergebnisse verhindert, verschlechtert, verzögert oder spürbar erschwert wird. Dagegen ist bundesrechtlich nichts zu erinnern. Namentlich führt nicht bereits jede Beeinträchtigung der erhobenen Basisdaten zu einer Störung.
12 Für die in § 18a Abs. 1 LuftVG tatbestandlich vorausgesetzte Störung von Flugsicherungseinrichtungen hat der Senat (BVerwG, Urteil vom 7. April 2016 - 4 C 1.15 - NVwZ 2016, 1247 Rn. 13) entschieden, dass nicht jede beliebige Beeinflussung der Einrichtung als Störung zu qualifizieren ist. Eine Störung tritt erst ein, wenn die Beeinflussungen eine bestimmte Schwelle überschreiten und dadurch die Funktion der Anlage beeinträchtigen. Die Funktionsbeeinträchtigung ist mit Blick auf die Aufgabenstellung der Flugsicherung in § 27c Abs. 1 LuftVG zu bestimmen. Eine Störung ist danach gegeben, wenn die Funktion bauwerksbedingt in einem Maß beeinträchtigt wird, das sich auf die Aufgabenerfüllung auswirkt.
13 Diese Überlegungen lassen sich auf § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 BauGB übertragen. Das legt bereits der Wortlaut der Vorschrift nahe, der eine Störung der "Funktionsfähigkeit der Radaranlage" voraussetzt. Der Funktionsbegriff wäre zu eng gefasst, wollte man darunter lediglich die technische Funktion der Anlage - die Erfassung von Radarbasisdaten - und nicht auch die Funktion der Anlage für die Erledigung der Aufgaben des jeweiligen Betreibers verstehen. Dies bestätigt die Systematik des Gesetzes. Durch § 35 Abs. 3 BauGB soll die Außenbereichsverträglichkeit von Vorhaben am jeweiligen Standort sichergestellt werden. Unter den Begriff der "öffentlichen Belange" fallen deshalb alle Gesichtspunkte, die für das Bauen im Außenbereich rechtserheblich sein können (siehe etwa Mitschang/Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 13. Aufl. 2016, § 35 Rn. 72). Rechtserheblich sind aber nur die hinter den in § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB beispielhaft aufgeführten Belangen stehenden öffentlichen Zwecke. Aus der Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drs. 15/2250 S. 55) ergibt sich nichts Gegenteiliges.
14 3. Die Kritik des Beklagten entzündet sich an der Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs, die "im Allgemeinen allenfalls" geringfügige Störung habe nicht das Gewicht eines dem strittigen Vorhaben entgegenstehenden öffentlichen Belangs. Die Kritik ist unberechtigt.
15 Zu Recht ist der Verwaltungsgerichtshof davon ausgegangen, dass die damit aufgeworfenen Fragen der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum steht dem DWD insoweit nicht zu.
16 a) Die Voraussetzungen, unter denen Beurteilungsspielräume oder Letztentscheidungsbefugnisse der Verwaltung ausnahmsweise anzuerkennen sind, sind in der Rechtsprechung geklärt.
17 Das auf effektiven Rechtsschutz gerichtete Verfahrensgrundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Verwaltungstätigkeit in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht grundsätzlich vollständig nachzuprüfen. Das schließt eine Bindung der rechtsprechenden Gewalt an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen und Wertungen seitens anderer Gewalten hinsichtlich dessen, was im Einzelfall rechtens ist, im Grundsatz aus (BVerfG, Beschlüsse vom 17. April 1991 - 1 BvR 419/81 und 213/83 - BVerfGE 84, 34 und vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 - BVerfGE 129, 1 ). Das gilt auch im Anwendungsbereich unbestimmter Gesetzestatbestände und Rechtsbegriffe. Beruht die angefochtene Entscheidung hierauf, so ist deren Konkretisierung grundsätzlich ebenfalls Sache der Gerichte, die die Rechtsanwendung der Verwaltungsbehörden uneingeschränkt nachzuprüfen haben; die Regeln über die eingeschränkte Kontrolle des Verwaltungsermessens gelten nicht für die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe (BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 - a.a.O. S. 20 f. m.w.N.).
18 Das Gebot effektiven Rechtsschutzes schließt es indes nicht aus, dass gesetzlich eröffnete Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume sowie die Tatbestandswirkung von Exekutivakten die Rechtskontrolle durch die Gerichte einschränken. Gerichtliche Kontrolle endet dort, wo das materielle Recht in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise das Entscheidungsverhalten nicht vollständig determiniert und der Verwaltung einen Einschätzungs- und Auswahlspielraum belässt. Ob dies der Fall ist, muss sich ausdrücklich aus dem Gesetz ergeben oder durch Auslegung hinreichend deutlich zu ermitteln sein. Demgegenüber kann es weder der Verwaltung noch den Gerichten überlassen werden, ohne gesetzliche Grundlage durch die Annahme behördlicher Letztentscheidungsrechte die Grenzen zwischen Gesetzesbindung und grundsätzlich umfassender Rechtskontrolle der Verwaltung zu verschieben (BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 - BVerfGE 129, 1 S. 22 m.w.N.). Offengelassen hat das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbare Entscheidungsspielräume der Verwaltung ausnahmsweise auch ohne ge