BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 2.3.2017, II B 33/16
ECLI:DE:BFH:2017:B.020317.IIB33.16.0
Kein Erlass von Säumniszuschlägen zur Grundsteuer wegen möglicher Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung - Aussetzung des Verfahrens - Verwirkung von Säumniszuschlägen
Leitsätze
1. Ein Klageverfahren, in dem der Kläger den Erlass von Säumniszuschlägen zur Grundsteuer wegen der möglichen Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung begehrt, ist nicht deshalb nach § 74 FGO auszusetzen, weil der BFH dem BVerfG die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften über die Einheitsbewertung ab 2008 vorgelegt hat.
2. Die beim BVerfG anhängigen Verfahren rechtfertigen keine AdV von Einheitswertbescheiden und damit auch keinen Erlass von Säumniszuschlägen zur Grundsteuer.
Tenor
Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. März 2016 3 K 3271/15 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand I. 1 Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) errichtete im Jahr 1996 auf einem ihm gehörenden Grundstück in Berlin ein Gebäude, das vermietet ist. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) nahm daraufhin mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 7. Dezember 2004 eine Wert- und Artfortschreibung auf den 1. Januar 1997 vor und erließ einen entsprechenden Grundsteuermessbescheid und darauf beruhende Grundsteuerbescheide. 2 Da der Kläger die Grundsteuer wiederholt nicht bei Fälligkeit entrichtete, fielen Säumniszuschläge an. Anfang 2014 bestanden Forderungen des FA gegen den Kläger in Höhe von 19.740,92 EUR für Grundsteuer und von 10.601,74 EUR für Säumniszuschläge. Zum 31. August 2015 bestanden Rückstände in Höhe von 9.632,71 EUR, davon Säumniszuschläge in Höhe von 8.142,50 EUR. 3 Die Anträge des Klägers, den Einheitswert auf den 1. Januar 2008 bzw. 1. Januar 2012 wegen Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung aufzuheben und Aussetzung der Vollziehung (AdV) zu gewähren, lehnte das FA ab und wies die dagegen gerichteten Einsprüche zurück. 4 Die AdV-Anträge blieben beim Finanzgericht (FG) ebenfalls erfolglos. Das FG vertrat die Ansicht, das bei Gewährung von AdV nur wegen Verfassungswidrigkeit der maßgeblichen gesetzlichen Regelung erforderliche besondere Aussetzungsinteresse liege nicht vor. 5 Das FA lehnte auch den Antrag des Klägers auf Stundung offener Grundsteuerbeträge ab, soweit nicht bereits Zahlungsverjährung eingetreten war. 6 Über die auf Aufhebung des Einheitswerts zu den genannten Stichtagen gerichteten Klagen ist noch nicht entschieden. Das FG ordnete im Hinblick auf die Vorlagebeschlüsse des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. Oktober 2014 II R 16/13 (BFHE 247, 150, BStBl II 2014, 957, Az. des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG--: 1 BvL 11/14) und vom 17. Dezember 2014 II R 14/13 (BFH/NV 2015, 475, Az. des BVerfG: 1 BvL 1/15) zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften über die Einheitsbewertung die Aussetzung bzw. das Ruhen der Klageverfahren an. 7 Das FA lehnte den Antrag des Klägers, ihm Säumniszuschläge in Höhe von 7.344 EUR gemäß Rückständeaufstellung vom 21. Juli 2014 zu erlassen, ebenfalls ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das FG führte aus, das Verfahren sei nicht bis zur Entscheidung des BVerfG im Verfahren 1 BvL 1/15 auszusetzen. Das FA habe zutreffend angenommen, dass allein die beim BVerfG anhängige Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Einheitsbewertung keinen Erlassgrund ergebe. Die Zahlungspflicht des Klägers sei durch die Ablehnung der AdV und der Stundung bestätigt worden. Die Säumniszuschläge wären gemäß § 240 Abs. 1 Satz 4 der Abgabenordnung (AO) selbst dann nicht zu erlassen, wenn das BVerfG die Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung feststellen sollte. 8 Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), die Erforderlichkeit einer Entscheidung zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) sowie Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) geltend. 9 Das FA hält die Beschwerde für unzulässig.
Entscheidungsgründe II. 10 Die Beschwerde ist unbegründet. Soweit ihre Begründung den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entspricht, liegen die geltend gemachten Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO nicht vor. 11 1. Ein Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) ist nicht deshalb gegeben, weil das FG das Verfahren nicht ausgesetzt, sondern in der Sache durch Urteil entschieden hat. 12 a) Unterlässt das FG eine gebotene Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO, liegt darin ein Verfahrensfehler im Sinne eines Verstoßes gegen die Grundordnung des Verfahrens (BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 V R 23/12, BFHE 241, 242, BStBl II 2014, 325, Rz 16, m.w.N.). Voraussetzung für die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO ist, dass die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Eine Abhängigkeit zwischen zwei anhängigen Verfahren in diesem Sinne besteht, wenn der Ausgang des einen (möglicherweise auszusetzenden) Rechtsstreits von dem anderen in der Sache beeinflusst werden kann (BFH-Urteil in BFHE 241, 242, BStBl II 2014, 325, Rz 17). 13 Eine Aussetzung des Verfahrens kann entsprechend der Vorschrift des § 74 FGO geboten sein, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (BFH-Urteil vom 5. Februar 2015 III R 19/14, BFHE 249, 441, BStBl II 2015, 840, Rz 27, m.w.N.). Dabei ist eine Aussetzung des Klageverfahrens wegen vor dem BVerfG anhängiger Musterverfahren nur dann gerechtfertigt, wenn die Musterverfahren und das Klageverfahren hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleichgelagert sind (BFH-Urteil in BFHE 249, 441, BStBl II 2015, 840, Rz 27, m.w.N.). 14 b) Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach der Lage des einzelnen Falls --aus persönlichen oder sachlichen Gründen-- unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen einschließlich der nach § 240 Abs. 1 AO entstehenden Säumniszuschläge (BFH-Urteil vom 10. März 2016 III R 2/15, BFHE 253, 12, BStBl II 2016, 508, Rz 27). 15 Gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO sind Säumniszuschläge zu entrichten, falls eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt wird. Nach § 240 Abs. 1 Satz 4 AO bleiben die verwirkten Säumniszuschläge unberührt, wenn die Festsetzung einer Steuer aufgehoben oder geändert wird. Diese Regelung gilt uneingeschränkt auch für die Beseitigung rechtswidriger Steuerfestsetzungen, da die Vollstreckbarkeit eines Steuerbescheids nicht von seiner Bestandskraft abhängt. Säumniszuschläge sind allerdings nicht verwirkt, soweit die Vollziehung des Steuerbescheids ausgesetzt ist (BFH-Urteil in BFHE 253, 12, BStBl II 2016, 508, Rz 30). 16 Säumniszuschläge sind demgemäß wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen, wenn die Steuerfestsetzung später aufgehoben wird und der Steuerpflichtige alles getan hat, um die AdV des Steuerbescheids zu erreichen, das Finanzamt oder das FG aber die Aussetzung "obwohl möglich und geboten" abgelehnt hat. Ein Erlass kommt hingegen nicht in Betracht, wenn der Steuerpflichtige sich nicht um die AdV bemüht hat oder wenn die Vollziehung zu Recht nicht ausgesetzt worden ist, weil --z.B. in Schätzungsfällen-- keine ernstlichen Zweifel bestanden und der Steuerbescheid erst aufgrund nachgereichter Steuererklärungen aufgehoben worden ist (BFH-Urteil in BFHE 253, 12, BStBl II 2016, 508, Rz 31, m.w.N.). 17 c) Die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO sind im Stre