BUNDESFINANZHOF Urteil vom 17.12.2015, V R 13/15
Zur Verfolgungsverjährung bei zu Unrecht erlangtem Kindergeld
Leitsätze
1. NV: § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG ist verfassungsgemäß und unionsrechtskonform.
2. NV: Die Türkei zählt nicht zu den in § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG genannten Staaten.
3. NV: Nach § 171 Abs. 7 AO i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO endet die Festsetzungsfrist in Fällen der Steuerhinterziehung oder der leichtfertigen Steuerverkürzung nicht, bevor die Verfolgung der Steuerstraftat oder der Steuerordnungswidrigkeit verjährt ist.
4. NV: Bei zu Unrecht erlangtem Kindergeld beginnt die Verfolgungsverjährung erst mit der letztmals zu Unrecht erlangten Kindergeldzahlung.
Tenor
Die Revision der Klägerin wird zurückgewiesen.
Auf die Revision der Familienkasse wird das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 24. Juli 2014 1 K 102/13 insoweit aufgehoben, als es die Aufhebung der Kindergeldfestsetzungen für die Monate Januar 2002 bis Dezember 2007 aufgehoben hat; die Klage wird auch insoweit abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.
Tatbestand1 I. Streitig ist das Kindergeld für in der Türkei in Ausbildung befindliche minderjährige Kinder.2 Die 1972 geborene Klägerin, Revisionsbeklagte und Revisionsklägerin (Klägerin) ist türkischer Abstammung. Sie ist seit 1990 verheiratet und Mutter der am …. Januar 1994 in O (Inland) geborenen Töchter B und K. Der Ehemann lebt und arbeitet seit 1992 in der Türkei; mittlerweile ist er Rentner. Die Klägerin und ihre beiden Kinder wurden 1999 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) eingebürgert. Die Klägerin lebt in N (Inland) bei ihren Eltern und wird von ihnen unterstützt. Die Kinder B und K lebten zunächst bei der Klägerin in N. Im Jahr 2000 wurden sie am Wohnort des Vaters in der Türkei eingeschult, blieben aber weiter unter der Anschrift der Klägerin in N gemeldet. Beide Kinder waren von 1996 bis 2000 in N in kinderärztlicher und vom 29. Mai 1998 bis zum 5. Juni 2000 in BR in HNO-ärztlicher Behandlung. Die Kinder sind im Jahr 2000 zu ihrem Vater in die Türkei gezogen, sind dort eingeschult worden, haben dort in den Folgejahren die Schule besucht und schließlich abgeschlossen und studieren dort mittlerweile. Die Klägerin bezog seit der Geburt der Kinder Kindergeld.3 Aus den Merkblättern zum Kindergeld 1994, 1995, 1996, 1998 und 2000 ging hervor, dass alle Änderungen, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung sind, insbesondere wenn ein Kind den Haushalt des Kindergeldberechtigten verlässt und in den Haushalt des anderen Elternteils überwechselt, unverzüglich dem Arbeitsamt (Kindergeldkasse) mitzuteilen waren. Die Klägerin hat bei ihrem Erstantrag auf Kindergeld 1994 sowie in einer weiteren Erklärung vom 10. März 1994 unterschrieben, dass sie das Merkblatt über Kindergeld erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen habe. In der Erklärung vom 10. März 1994 erklärte sie ferner, dass sich ihre Kinder voraussichtlich auf nicht absehbare Zeit in Deutschland aufhalten würden und dass sie über ihre Verpflichtung, die Kindergeldkasse unverzüglich über eine Rückkehr eines der Kinder in die Türkei zu informieren, belehrt worden sei. Auch in den zweisprachig deutsch-türkisch gefassten Fragebögen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld 1995, 1996 und 1998 erklärte die Klägerin, Kenntnis von dieser Verpflichtung zu haben und das Merkblatt zum Kindergeld erhalten und zur Kenntnis genommen zu haben.4 Im Januar 2000 reichte die Klägerin bei der Beklagten, Revisionsklägerin und Revisionsbeklagten (Familienkasse) die Kopie ihrer Einbürgerungsurkunde ein. Im Zeitraum Februar 2000 bis November 2011 sind keine Kontakte zwischen der Klägerin und der Familienkasse aktenkundig.5 Nach Hinweisen der Familienkasse im November 2011 auf den bevorstehenden Eintritt der Volljährigkeit der Kinder B und K beantragte die Klägerin am 5. Januar 2012 Kindergeld. In dem Antrag bejahte sie die Frage, ob die Kinder außerhalb ihres Haushalts lebten und gab als Anschrift der Kinder die ihres Ehemannes an. Die Klägerin legte am 7. September 2012 eine Bescheinigung ihres Ehemannes auf amtlichem Vordruck über die Weiterleitung des Kindergeldes an ihn vor. Der Bescheinigung beigefügt war auch eine Erklärung der Klägerin zur Haushaltszugehörigkeit der Kinder, in der sie angab, dass die Kinder seit 1997 nicht mehr in ihrem Haushalt lebten.6 Der Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar 2002 bis Januar 2012 vom 28. September 2012 ist der Klägerin nicht zugegangen. Deshalb übersandte die Familienkasse dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Schriftsatz vom 25. Februar 2013 eine Kopie des Bescheids vom 28. September 2012 unter ausdrücklicher Erklärung des Bekanntgabewillens.7 Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht (FG) der Klage teilweise statt, hob den Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung von Januar 2002 bis Januar 2012 vom 28. September 2012 und den Einspruchsbescheid vom 15. Mai 2012, soweit sie die Kindergeldfestsetzungen Januar 2002 bis Dezember 2007 betrafen auf und wies die Klage im Übrigen ab.8 Der Klägerin stehe Kindergeld für den Streitzeitraum nicht zu, weil die Kinder B und K weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung finde, gehabt hätten. Ein Kind, das sich zum Zwecke des Schulbesuchs mehrere Jahre im Ausland aufhalte, behalte seinen inländischen Wohnsitz regelmäßig nicht bei. Das gelte auch für B und K, weil sie sich weniger als drei Monate bei der Klägerin in Deutschland aufgehalten hätten. Die Familienkasse habe daher die Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in der in den Streitjahren geltenden Fassung (EStG), wonach die Kindergeldfestsetzung bei einer Änderung der für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben sei, zutreffend bejaht.9 Der Aufhebung stehe für den Zeitraum Januar 2002 bis Dezember 2007 allerdings der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen. Eine Verlängerung der Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2, § 370 der Abgabenordnung (AO) wegen Steuerhinterziehung auf zehn Jahre komme nicht in Betracht. Zwar habe die Klägerin den objektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erfüllt, indem sie die Familienkasse pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen habe. Es sei insoweit aber kein Vorsatz festzustellen. Die Festsetzungsverjährung habe sich allerdings auf fünf Jahre verlängert, weil die Klägerin insoweit leichtfertig gehandelt habe. Unter Berücksichtigung der Verlängerung der Festsetzungsfrist auf fünf Jahre habe die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar 2008 bis Januar 2012 zu Recht aufgehoben; im Übrigen sei Festsetzungsverjährung eingetreten.10 Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ließ der Senat die Revision mit Beschluss vom 31. März 2015 zu. Ausweislich der Zustellungsurkunde wurde d