Bundesarbeitsgericht Urteil vom 16. November 2017 Zweiter Senat - - ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 I. Arbeitsgericht Pforzheim Urteil vom 17. Februar 2016 - 6 Ca 348/15 - II. Landesarbeitsgericht Baden - Württemberg Urteil vom 15. Dezember 2016 - 3 Sa 23/16 - Entscheidungsstichworte : Außerordentliche Kündigung - Betriebsrats - /Wahlvorstandsmitglied Leits a tz: Die gerichtliche Entscheidung im Verfahren nach § 103 Abs. 2 BetrVG ersetzt - unabhängig von dem im e- triebsverfassungsrechtlichen Amt - die Zustimmung des Betriebsrats im Hinblick auf die vom Arbeitgeber geltend gemachten Kündigungsgründe. ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 - 2 - BUNDESARBEITSGERICHT 2 AZR 14/17 3 Sa 23/16 Landesarbeitsgericht Baden - Württemberg Im Namen des Volkes! Verkündet am 16. November 2017 URTEIL Radtke, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle In Sachen Klägerin, Berufungsklägerin, Revisionsklägerin und Anschlussrevisionsbeklagte, pp. Beklagte, Berufungsbeklagte, Revisionsbeklagte und Anschlussrevisionsklägerin, hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver handlung vom 16 . November 201 7 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht Prof. Dr. Koch, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Rachor, den Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Niemann sowie d ie ehrenam t- liche Richter in Schipp und den ehrenamtlic hen Richter Wolf für Recht erkannt: - 2 - 2 AZR 14/17 ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 - 3 - 1. Die Revision der Klägerin und die Anschlussrevision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsg e- richts Baden - Württemberg vom 15. Dezember 2016 - 3 Sa 23/16 - werden zurückgewiesen. 2. Die Kosten des Revisionsver fahrens haben die Klägerin zu 3/4 und die Beklagte zu 1/4 zu tragen. Von Rechts wegen! Tatbestand Die Parteien streiten vorrangig über die Wirksamkeit zweier außero r- dentlicher Kündigungen. Die Beklagte betreibt ein Tagungszentrum mit angeschlossene m Hotel. Die Klägerin war bei ihr als Abteilungsleiterin Housekeeping beschäftigt. Sie war Vorsitzende des im Betrieb der Beklagten gebildeten fünfköpfigen Betrieb s- rats. Mit Beschluss vom 16. Juli 2015 ( - 18 TaBV 6/14 - ) ersetzte das La n- desarbeitsgericht Baden - Württemberg die vom Betriebsrat verweigerte Zusti m- mung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Klägerin. Die B e- schlussgründe wurden den Beteiligten am 4. August 2015 zugestellt. Der B e- schluss wurde mit Ablauf des 4. September 2015 (Freitag ) formell rechtskräftig. Am 3. August 2015 legte die Klägerin ihr Betriebsratsamt nieder. Da keine Ersatzmitglieder zur Verfügung standen, beschloss der Betriebsrat die Durchführung von Neuwahlen. Die Klägerin wurde zur Vorsitzenden des Wah l- vorstands best ellt. Die Beklagte erhielt hiervon am 4. August 2015 Kenntnis. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien vorsorglich am 10. August 2015 und nach Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses vom 16. Juli 2015 erneut am 7. September 2015 außerordentlich fristlos. Beide Kündigung s- schreiben gingen der Klägerin jeweils am Folgetag zu. 1 2 3 4 5 - 3 - 2 AZR 14/17 ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 - 4 - Die Klägerin hat die Kündigungen für unwirksam gehalten. Die Beklagte habe unverzüglich nach Ende ihres Sonderkündigungsschutzes als Betrieb s- ratsmitglied künd igen müssen. Im Übrigen fehle es an der für beide Kündigu n- gen erforderlichen Zustimmung des Betriebsrats. Das Landesarbeitsgericht h a- be lediglich die Zustimmung zu ihrer außerordentlichen Kündigung als Betrieb s- rats - , nicht aber als Wahlvorstandsmitglied er setzt. Daneben habe sich das Z u- stimmungsersetzungsverfahren durch die Niederlegung ihres Betriebsratsamts am 3. August 2015 erledigt. Der Beschluss des Landesarbeitsgerichts sei de s- halb gegenstandslos geworden. Die Klägerin hat - soweit für das Revisionsv erfahren von Interesse - b e- antragt 1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die arbeitgeberseitige außerordentliche Künd i- gung vom 10. August 2015, zugegangen am 11. August 2015, nicht aufgelöst wurde; 2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die arbeitgeberseitige außerordentliche Künd i- gung vom 7. September 2015, zugegangen am 8. September 2015, nicht aufgelöst wurde; sowie hilfsweise für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag zu 2. : die Beklagte zu verurteilen, an sie näher bestimmte Beträge als Differenzlohn für September und Oktober 2015 zu zahlen. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Der Klägerin sei es verwehrt, sich auf den Kündigungsschutz als Mitglied des Wahlvorsta nds zu berufen. Es sei davon auszugehen, dass es sich bei der Niederlegung ihres Betriebsratsamts und der anschließenden Übernahme der Funktion als Wah l- vorstandsvorsitzende um eine bewusst gewählte Taktik gehandelt habe. Die Kündigung vom 7. September 2015 sei auf die im Beschluss des Landesa r- beitsgerichts über die Zustimmungsersetzung genannten Gründe gestützt wo r- den. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Unter Zurückweisung der weiter gehenden Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht die a u- 6 7 8 9 - 4 - 2 AZR 14/17 ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 - 5 - ßerordentliche Kündigung vom 7. September 2015 für wirksam gehalten. Hie r- gegen haben - im Umfang ihres Unterliegens - die Klägerin Revision und die Beklagte Anschlussrevision eingelegt, mit denen sie ihre ursprünglichen Antr ä- ge weiter verfolgen. Entsche idungsgründe Die Revision der Klägerin und die Anschlussrevision der Beklagten sind unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung zu Recht nur teilweise entsprochen und festgestellt, das Arbeitsverhältnis der Parteien sei zwar nicht durch die au ßerordentliche Kündigung der Beklagten vom 10. August 2015, aber durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 7. September 2015 aufgelöst worden. I. Die außerordentliche Kündigung vom 10. August 2015 ist gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 KSchG iVm . § 134 BGB nichtig . 1. Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 KSchG ist d ie Kündigung eine s Mitglieds d es Wahlvorstands vom Zeitpunkt seiner Bestellung an bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses unzulässig, es sei denn, da ss Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, und da ss die nach § 103 BetrVG erforderliche Z u- stimmung vorliegt oder durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzt ist . 2. Die K lägerin war nach den nicht angegriffenen und damit für den Senat ge m. § 559 Abs. 2 ZPO bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts bei Zugang der Kündigung am 11. August 2015 vom Betriebsrat zum Mitglied des Wahlvorstands bestellt. 3. Die nach § 15 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 KSchG iVm. § 103 Abs. 1 BetrVG erforderliche Zustimmung des Betriebsrats lag im Zeitpunkt des Zugangs der 10 11 12 13 14 - 5 - 2 AZR 14/17 ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 - 6 - Kündigung vom 10. August 2015 weder vor noch war sie iSd. § 103 Abs. 2 BetrVG - rechtskräftig - gerichtlich ersetz t. a) Die außerordentliche Kündigung der Klägerin bedurfte der Zustimmung des Betriebsrats, obwohl d ie Gesamtzahl seiner Mitglieder unter die vorg e- schriebene Zahl von fünf Mitgliedern gesunken war. In einem solchen Fall führt der Betriebsrat nach § § 22 , 1 3 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG die Geschäfte weiter, bis der neue Betriebsrat gewählt und das Wahlergebnis bekanntgegeben ist. Zu diesen gehört auch die Wahrnehmung des Zustimmungsrechts aus § 103 Abs. 1 BetrVG (vgl. BAG 16. Oktober 1986 - 2 ABR 71/85 - zu B II 1 d er Grü n- de) . b) Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Betriebsrat seine Z u- stimmung nicht dadurch erteilt , dass sein Verfahrensbevollmächtigter das Z u- stimmungsersetzungsverfahren mit Schrift satz vom 4. August 2015 gegenüber dem Landesarbeitsge richt für erle digt erklärt e . Hierin lag keine Zustimmung zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung. Vielmehr hat der Betriebsrat lediglich seine Ansicht zum Ausdruck gebracht, dass die Niederlegung des B e- triebsratsamts durch die Klägerin ein das Zusti mmungsersetzungsverfahren erledigendes Ereignis darstelle. c) Die nach § 103 Abs. 1 BetrVG erforderliche Zustimmung des Betrieb s- rats war im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung nicht durch eine gerichtliche Entscheidung iSd. § 103 Abs. 2 BetrVG ersetzt. aa) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines durch § 15 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 KSchG geschützten Mitglieds eines Wahlvorstands kann in Fällen, in d e- nen es auf die gerichtliche Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats a n- kommt , wirksam erst nach Eintritt der formellen Rechtskraft einer entspreche n- den gerichtlichen Entscheidung erfolgen (für Betriebsrats - bzw. Personalrat s- mitglieder BAG 24. November 2011 - 2 AZR 480/10 - Rn. 15 mwN ) . Daneben hat es der Senat in der Vergangenheit für möglich gehalten, dass die Künd i- gung ausnahmsweise auch dann erfolgen kann , wenn ein Rechtsmittel oder 15 16 17 18 - 6 - 2 AZR 14/17 ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 - 7 - Rechtsbehelf gegen den die Zustimmung ersetzenden Beschluss offensichtlich aussichtslos ist (BAG 24. November 2011 - 2 AZR 480/10 - Rn. 18) . bb) Der die Zustimmung des Betrieb srats ersetzende Beschluss des La n- desarbeitsgerichts vom 16. Juli 2015 ( - 18 TaBV 6/14 - ) war zum Zeitpunkt des Zugangs der außerordentlichen Kündigung vom 10. August 2015 nicht recht s- kräf tig. (1) Beschlüsse im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren werd en f ormell rechtskräftig, wenn sie mit einem ordentlichen Rechtsmittel nicht mehr ang e- fochten werden können (BAG 13. März 2013 - 7 ABR 69/11 - Rn. 10, BAGE 144, 340 ; 26. November 2009 - 2 AZR 185/08 - Rn. 12 , BAGE 132, 293 ) . Die formelle Rechtskraft eines die Zustimmung des Betriebsrats ersetzenden Beschlusses des Landesarbeitsgerichts nach § 103 Abs. 2 BetrVG tritt demen t- sprechend , sofern die Rechtsbeschwerde - wie hier - nicht zugelassen worden ist, mit dem Ablauf der Frist nach § 92a Satz 2 iVm. § 72a Ab s. 2 Satz 1 ArbGG oder mit der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch das Bu n- desarbeitsgericht ein (vgl. BAG 9. Juli 1998 - 2 AZR 142/98 - zu II 2 a der Gründe, BAGE 89, 220 ) . (2) Die einmonatige Notfrist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde durch das Landesarbeitsgericht gem. § 92a Satz 2 iVm. § 72a Abs. 2 Satz 1 ArbGG lief im Streitfall erst am 4. September 2015 ab. Der vollständig abgefasste Beschluss des Landesa r- beitsgerichts war den Beteiligten am 4. Au gust 2015 zugestellt worden. (3) Der Beschluss des Landesarbeitsgerichts ist nicht vorzeitig rechtskräftig geworden. Es kann dahinstehen, ob der Betriebsrat in entsprechender Anwe n- dung von § 515 ZPO auf die Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde ve r- zichtet hat, indem sein Verfahrensbevollmächtigter mit Schriftsatz vom 4. August 2015 gegenüber dem Landesarbeitsgericht das Zustimmungserse t- zungsv erfahren für erledigt erklärt e. Die Klägerin hat jedenfalls nicht auf die E r- hebung einer Nichtzulassungsbesch werde verzichtet. 19 20 21 22 - 7 - 2 AZR 14/17 ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 - 8 - cc) Die Beklagte hat keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass ein e B e- schwerde gegen die Nichtz ulassung der Rechtsb eschwerde durch das Lande s- arbeitsgericht von vorn herein offensichtlich aussichtslos gewesen wäre. Es b e- darf daher keine r Entscheidung, ob der Senat an seiner zuletzt im Urteil vom 24. November 2011 ( - 2 AZR 480/10 - Rn. 18) vertretenen Rechtsauffassung festhält. 4. Der Klägerin ist es nicht nach § 242 BGB verwehrt, sich auf die Nichti g- keit der Kündigung infolge des durch ihre Mitgliedschaft im Wahlvorstand b e- gründeten Sonderkündigungsschutzes zu berufen. Insbesondere nutzt sie damit nicht rechtsmissbräuchlich eine unredlich erworbene und in diesem Sinne ledi g- lich formale Rechtsposition aus ( zu dieser Fallgruppe treuwidrige n Verhaltens Jauernig/Mansel BGB 16. Aufl. § 242 Rn. 42, 45 aE ) . a) Der Senat hat ein solches rechtsmissbräuchliches Verhalten in einer kollusiven Herbeiführung des Verhinderungsfalls eines ordentlichen Betrieb s- ratsmitglieds gesehen, wenn hierdurch bezweckt worden ist, einem Ersatzmi t- glied Sonderkündigungsschutz nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG zu verschaffen (BAG 27. September 2012 - 2 AZR 955/11 - Rn. 24; 8. September 2011 - 2 AZR 388/10 - Rn. 39) . Das ist anzunehmen, wenn der Vertretungsfall nur zum Schein herbeigeführt wurde und das Ersatzmitglied wusste oder es sich ihm aufdrängen musste, dass ein solcher in Wirklichkeit nicht vorlag (BAG 12. Februar 2004 - 2 AZR 163/03 - zu B I 2 der Gründe) . b) Ein Sachverhalt, der einem solchen kollusiven Zusam menwirken zw i- schen Betriebsratsmitgliedern entspricht, ist vorliegend nicht gegeben. Die B e- stellung der Klägerin zur Vorsitzenden des Wahlvorstands und der damit ve r- bundene Erwerb des Sonderkündigungsschutzes beruht nicht auf einem b e- triebsverfassungswidri gen Handeln des Betriebsrats oder einzelner seiner Mi t- glieder. aa) Mit dem Absinken der Zahl der Betriebsratsmitglieder einschließlich der noch vorhandenen Ersatzmitglieder unter die vorgeschriebene Anzahl war gem. § 13 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG ein neuer Betri ebsrat zu wählen. Für diese Wahl ist 23 24 25 26 27 - 8 - 2 AZR 14/17 ECLI:DE:BAG:2017:161117.U.2AZR14.17.0 - 9 - vom bisherigen Betriebsrat ein aus drei Wahlberechtigten bestehende r Wah l- vorstand zu