Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fünfte Sektion
Anonymisierte nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Bundesministerium der Justiz, Berlin
02/09/10 Rechtssache U. gegen DEUTSCHLAND (Individualbeschwerde Nr. 35623/05)
RECHTSSACHE U. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 35623/05)
URTEIL
STRASSBURG
2. September 2010
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache U. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richtern
Peer Lorenzen, Präsident,
Renate Jaeger,
Karel Jungwiert,
Mark Villiger,
Isabelle Berro-Lefèvre,
Mirjana Lazarova Trajkovska,
Ganna Yudkivska,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 29. Juni 2010
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 35623/05) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr U. („der Beschwerdeführer“), am 24. September 2005 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte. Der Beschwerdeführer, der seinen Nachnamen während des innerstaatlichen Verfahrens von F. in U. geändert hatte, nahm 2009 seinen ursprünglichen Familiennamen F. wieder an.
2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn Comes, Rechtsanwalt in Köln, vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer rügte, dass die gegen ihn durchgeführten Überwachungs-maßnahmen, insbesondere seine Observation unter Einsatz des GPS sowie die Verwertung der so erlangten Daten in dem gegen ihn geführten Strafverfahren, sein Recht auf Achtung seines Privatlebens aus Artikel 8 der Konvention sowie sein Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Konvention verletzt hätten.
4. Am 21. April 2008 entschied der Präsident der Fünften Sektion, die Regierung von der Beschwerde in Kenntnis zu setzen. Es wurde auch entschieden, die Begründetheit und die Zulässigkeit der Beschwerde gleichzeitig zu prüfen (Artikel 29 Abs. 3).
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der 1967 geborene Beschwerdeführer ist in M. wohnhaft.
A) Hintergrund der Rechtssache
6. Im Frühjahr 1993 leitete der Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen eine Langzeitbeobachtung des Beschwerdeführers ein. Der Beschwerdeführer war der Beteiligung an Straftaten verdächtig, die von der sogenannten Antiimperialistischen Zelle verübt wurden, einer Organisation, die den von der „Rote Armee Fraktion“, einer linksextremistischen terroristischen Vereinigung, seit 1992 aufgegebenen bewaffneten Kampf fortführte.
7. In der Folge wurde der Beschwerdeführer durch Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gelegentlich visuell observiert, und die Eingangsbereiche zu seinen Wohnungen wurden mit Videokameras überwacht. Außerdem überwachte der Verfassungsschutz die Telefonan-schlüsse in dem Haus, in dem der Beschwerdeführer mit seiner Mutter zusammen wohnte (vom 26. April 1993 bis 4. April 1996), und in einer nahe gelegenen Telefonzelle (vom 11. Januar 1995 bis 25. Februar 1996). Ferner wurden Postsendungen, die für ihn bestimmt waren, geöffnet und überprüft (vom 29. April 1993 bis 29. März 1996).
8. Gegen S., einen mutmaßlichen Komplizen des Beschwerdeführers, wurden ebenfalls seit 1993 Observierungsmaßnahmen durchgeführt. Das Hamburger Amt für Verfassungs-schutz überwachte Telefongespräche, die vom Telefonanschluss im Haus seiner Eltern geführt wurden, sowie seine Post. Außerdem wurde er gelegentlich von Mitarbeitern des Amtes observiert.
9. Im Oktober 1995 leitete der Generalbundesanwalt ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer und S. wegen Beteiligung an Sprengstoffanschlägen ein, für die die Antiimperialistische Zelle die Verantwortung übernommen hatte. Das Bundeskriminalamt war für die Ermittlungen zuständig.
10. Der Beschwerdeführer und S. wurden daraufhin von Beamten des Bundeskriminalamts schwerpunktmäßig an den Wochenenden vom 30. September 1995 bis zu ihrer Festnahme am 25. Februar 1996 visuell observiert. Außerdem wurde der Eingangsbereich des Hauses, in dem der Beschwerdeführer zusammen mit seiner Mutter lebte, mit Hilfe einer zusätzlichen vom Bundeskriminalamt installierten Videokamera überwacht (von Oktober 1995 bis Februar 1996). Die Telefonanschlüsse in diesem Haus, in einer nahe gelegenen Telefonzelle und in der Hamburger Wohnung von S. wurden auf Anordnung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs überwacht (vom 13. Oktober 1995 bis 27. Februar 1996). Dieser Richter ordnete außerdem die polizeiliche Beobachtung des Beschwerdeführers und des S. sowie der von ihnen genutzten Fahrzeuge an. Das Bundeskriminalamt observierte mit Hilfe von Videokameras auch den Eingangsbereich der Wohnung des S. (von Oktober 1995 bis Februar 1996). Außerdem hörte es den von S. beruflich genutzten Betriebsfunk ab.
11. Im Oktober 1995 brachte das Bundeskriminalamt ferner am Fahrzeug des S., das der Beschwerdeführer und S. häufig gemeinsam benutzten, zwei Peilsender an. Doch der Beschwerdeführer und S. entdeckten die Peilsender und zerstörten sie. Da sie vermuteten, dass ihre Telefongespräche abgehört wurden und sie unter Beobachtung standen, telefonierten sie nie miteinander, und es gelang ihnen häufig, sich der visuellen Observation durch die Ermittlungsbehörden zu entziehen.
12. Vor diesem Hintergrund brachte das Bundeskriminalamt auf Anordnung des Generalbundesanwalts im Dezember 1995 am Fahrzeug des S. einen GPS-Empfänger (Global Positioning System) an. Damit konnte es den Standort und die Geschwindigkeit des Fahrzeugs im Minutentakt bestimmen. Die Daten wurden allerdings nur jeden zweiten Tag ausgelesen, um die Entdeckung des Empfängers zu vermeiden. Diese Observation dauerte bis zur Festnahme des Beschwerdeführers und des S. am 25. Februar 1996 an.
13. GPS ist ein satellitengestütztes Radionavigationssystem. Es ermöglicht die kontinuierliche zeitlich nicht verzögerte Standortbestimmung von mit GPS-Empfängern ausgestatteten Gegenständen überall auf der Erde, bei denen eine Positionsgenauigkeit von bis zu 50 Metern im Rahmen der Standzeit gegeben ist. Es beinhaltet keine visuelle oder akustische Überwachung. Im Gegensatz zu Peilsendern setzt sein Einsatz nicht voraus, dass der ungefähre Standort der zu ermittelnden Person bekannt ist.
C) Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf
14. In dem Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer und S. wies das Oberlandesgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 12. Dezember 1997 den Widerspruch des Beschwerdeführers gegen die Verwertung der durch seine Überwachung unter Einsatz des GPS gewonnenen Erkenntnisse als Beweismittel zurück. Es befand, dass § 100c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StPO (siehe Randnr. 29, unten) den GPS-Einsatz im vorliegenden Fall gestatte. Die auf diese Weise gesammelten zuverlässigen Daten könnten daher im Prozess verwertet werden. Diese Daten seien durch Erkenntnisse bestätigt worden, die sich aus der – gesetzmäßigen – Videoüberwachung und persönlichen Observation der Angeklagten ergeben hätten. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers habe der Einsatz des GPS einer Anordnung durch den Richter nicht schon allein deshalb bedurft, weil er mit anderen gesetzmäßigen Observationsmethoden gebündelt gewesen sei. Nach der StPO sei für die Überwachung durch GPS anders als bei Maßnahmen, die tiefer in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen, eine Anordnung durch den Richter nicht erforderlich. Ob eine Überwachungsmaßnahme zusätzlich zu bereits durchgeführten Maßnahmen angeordnet werden könne, sei eine Frage der Verhältnismäßigkeit der betreffenden zusätzlichen Maßnahme.
15. Am 1. September 1999 sprach das Oberlandesgericht Düsseldorf den Beschwerdeführer u. a. wegen versuchten Mordes in vier Fällen durch Herbeiführen einer Explosion schuldig und verurteilte ihn zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer und S., die seit Frühjahr 1995 die einzigen Mitglieder der sogenannten Antiimperialistischen Zelle gewesen seien, im Zeitraum zwischen Januar und Dezember 1995 Sprengsätze vor den Häusern von Bundestagsabgeordneten oder früheren Bundestagsabgeordneten sowie vor dem peruanischen Honorarkonsulat angebracht hätten.
16. Das Oberlandesgericht wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer von seinem Recht Gebrauch gemacht habe, sich zu den Vorwürfen nicht zu äußern, und dass S. seine Beteiligung an den Sprengstoffanschlägen lediglich allgemein eingeräumt habe, ohne dazu nähere Angaben zu machen. Anhand von Indizienbeweisen, die im Verlauf der gegen sie vorgenommenen Überwachungsmaßnahmen erlangt worden seien, sei jedoch erwiesen, dass sie die Straftaten begangen hätten, derentwegen sie schuldig gesprochen worden seien.
17. Das Oberlandesgericht stellte insbesondere fest, dass es im Fall des Sprengstoffanschlags, der nach der GPS-Überwachung des Fahrzeugs des S. verübt worden war, erwiesen sei, dass dieses Fahrzeug am Tattag sowie einige Tage davor in der Nähe des Tatorts geparkt gewesen sei. Außerdem sei das Fahrzeug in der Nähe der Orte, an denen die Angeklagten Bekennerschreiben fotokopiert, versteckt und später versandt hätten, sowie in der Nähe der Stellen in Wäldern lokalisiert worden, an denen die Ermittlungsbehörden später Verstecke mit dem für den Bombenbau nötigen Material gefunden hätten. Diese Beweise seien durch Informationen bestätigt worden, die durch andere Überwachungsmethoden erlangt worden seien, insbesondere durch die Videoüberwachung des Eingangsbereichs der Wohnung des Beschwerdeführers sowie durch die visuelle Observation der Angeklagten durch Mitarbeiter des Bundeskriminalamts. Die Beteiligung der Angeklagten an den Sprengstoffanschlägen vor ihrer Überwachung unter Einsatz des GPS sei durch die gleichartige Tatausführung sowie durch Informationen erwiesen, die durch die Videoüberwachung ihrer Wohnungen und die Telekommunikationsüberwachung erlangt worden seien.
C) .Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof
18. Mit einer Revision rügte der Beschwerdeführer insbesondere, dass Erkenntnisse, die durch seine angeblich rechtswidrige Überwachung besonders unter Einsatz des GPS gewonnen worden seien, in der Hauptverhandlung als Beweise verwertet worden seien.
19. Mit Urteil vom 24. Januar 2001 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet. Er stellte fest, dass es für die Erhebung von Daten mit Hilfe des GPS eine Rechtsgrundlage gebe, nämlich § 100c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StPO. Die so erhaltenen Informationen dürften daher im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer verwertet werden.
20. Insbesondere taste der Einsatz technischer Ortungssysteme wie z.B. des GPS nicht die Wohnung des Beschwerdeführers an. Da der Beschwerdeführer Straftaten von erheblicher Bedeutung verdächtig sei, nämlich der Beteiligung an Sprengstoffanschlägen, die von einer terroristischen Vereinigung verübt wurden, sei der Einsatz des GPS ein Eingriff gewesen, der in einem angemessenen Verhältnis zu seinem (auch durch Artikel 8 der Konvention geschützten) Recht auf Achtung seines Privatlebens und seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung stehe. Andere Ermittlungsmethoden seien weniger erfolgversprechend gewesen, da es dem Beschwerdeführer und S. häufig gelungen sei, sich anderen Überwachungsmaßnahmen zu entziehen.
21. Der Bundesgerichtshof stellte unter Bekräftigung der vom Oberlandesgericht dargelegten Gründe ferner fest, dass für die Kumulation mehrerer Ermittlungsmaßnahmen eine erweiterte Rechtsgrundlage oder eine Anordnung durch den Richter nicht erforderlich gewesen sei. Die Ermittlungsbehörden müssten allerdings prüfen, ob die Anordnung einer weiteren Überwachungsmaßnahme zusätzlich zu den bereits durchgeführten Maßnahmen noch verhältnismäßig sei. Eine lückenlose Überwachung des Beschwerdeführers, die allein den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Recht eines Menschen auf Privatleben hätte verletzen und die Frage eines Verbots der strafprozessualen Verwertung so erlangter Beweise aufwerfen können, habe jedenfalls nicht vorgelegen.
22. Der Bundesgerichtshof räumte ein, dass nach einer Gesetzesänderung im Jahr 2000 § 163f Abs. 4 StPO (siehe Randnr. 32, unten) vorsehe, dass jede längerfristige Observation, die mehr als einen Monat andauere, der Anordnung durch den Richter bedürfe, unabhängig davon, ob sie mit oder ohne technische Überwachungsmittel durchgeführt werde. Der Anordnungsvorbehalt des Richters habe sich aber bisher weder aus der Strafprozess-ordnung noch aus dem Verfassungsrecht oder aus Artikel 8 der Konvention ergeben.
D) Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
23. Der Beschwerdeführer erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er machte insbesondere geltend, dass er durch seine Observation durch die Verfassungsschutzämter der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg von Oktober 1995 bis Februar 1996 und die Urteile des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs in seinem Recht auf Privatleben verletzt worden sei. § 100c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StPO könne nicht als eine hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage für seine Observation unter Einsatz des GPS angesehen werden. Es gebe keine effektive gerichtliche Überprüfung dieser Maßnahme, und die gleichzeitige Durchführung mehrerer Observierungsmaßnahmen hätte einer eigenständigen Rechtsgrundlage bedurft. Außerdem verstoße die Verwertung der durch diese gesetzlich nicht vorgesehenen Maßnahmen erlangten Erkenntnisse in der Hauptverhandlung gegen sein Recht auf ein faires Verfahren.
24. Am 12. April 2005 wies das Bundesverfassungsgericht nach einer mündlichen Verhandlung die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (Geschäftszeichen 2 BvR 581/01) zurück. Es stellte fest, dass seine Beschwerde insoweit unbegründet sei, als er die prozessuale Verwertung von Beweisen, die durch seine Observation unter Einsatz des GPS zusätzlich zu anderen Überwachungsmaßnahmen erlangt worden seien, sowie die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen gerügt habe.
25. Die Überwachung des Beschwerdeführers unter Einsatz des GPS könne auf § 100c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StPO gestützt werden. Diese Vorschrift sei verfassungsgemäß. Insbesondere sei der Ausdruck „besondere für Observationszwecke bestimmte technische Mittel“ hinreichend bestimmt. In Abgrenzung zur visuellen oder akustischen Überwachung gehe es hier um die Ortung und Aufenthaltsbestimmung einer Person durch Beobachtung mit technischen Mitteln wie z.B. GPS. Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, die Observationsmethoden so zu formulieren, dass der Einsatz kriminaltechnischer Neuerungen ausgeschlossen wäre. Gleichwohl gebe es Gefahren für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, d.h. das Recht des Einzelnen, selbst über die Verwendung der über ihn vorliegenden Daten zu bestimmen. Der Gesetzgeber müsse daher die technischen Entwicklungen beobachten und die Achtung der Grundrechte durch die Ermittlungsbehörden notfalls durch ergänzende Rechtssetzung schützen.
26. Außerdem stelle die Maßnahme keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Privatleben dar. Durch seine Observation sei der Kernbereich seines Privatlebens nicht angetastet worden. Vielmehr könnten durch eine solche Überwachung mit technischen Mitteln bisweilen tiefer gehende Eingriffe wie z.B. das Abhören des gesprochenen Worts vermieden werden. Es sei deshalb nicht unverhältnismäßig, die Überwachungsmaßnahme auch anzuordnen, wenn bloß ein Anfangsverdacht einer Straftat (von erheblicher Bedeutung) bestehe und wenn andere Ermittlungsmethoden weniger erfolgversprechend wären. Überdies sei der Gesetzgeber nicht gehalten gewesen, für länger andauernde Observierungsmaßnahmen einen zusätzlichen Schutz vorzusehen – wozu er sich später durch Einfügung des § 163f Abs. 4 StPO entschlossen habe - sondern habe zunächst die tatsächlichen Entwicklungen in diesem Bereich abwarten dürfen.
27. Der Gesetzgeber sei auch nicht verpflichtet, den Einsatz mehrerer zeitgleicher Überwachungsmaßnahmen zu regeln. Eine Rundumüberwachung einer Person, mit der ein umfassendes Persönlichkeitsprofil erstellt werden könne, sei von Verfassungs wegen unzulässig, könne aber durch die bestehenden verfahrensrechtlichen Sicherungen grundsätzlich ausgeschlossen werden. Die Staatsanwaltschaft müsse jedoch bei der Anordnung einer Überwachungsmaßnahme durch ordnungsgemäße Dokumentation in der Akte und in länderübergreifenden Registern sicherstellen, dass sie über alle gegen die betreffende Person zeitgleich durchgeführten anderen Überwachungsmaßnahmen informiert sei. Der Gesetzgeber habe darüber hinaus zu beobachten, ob die bestehenden verfahrensrechtlichen Sicherungen auch angesichts zukünftiger Entwicklungen hinreichend seien, um den Grundrechtsschutz effektiv zu sichern und unkoordinierte Ermittlungs-maßnahmen verschiedener Behörden zu verhindern.
28. Der Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers durch dessen Observation unter Einsatz des GPS sei in der vorliegenden Rechtssache verhältnismäßig gewesen, insbesondere in Anbetracht der Schwere der ihm zur Last gelegten Straftaten sowie der Tatsache, dass er sich anderen Überwachungsmaßnahmen entzogen habe. Der Einsatz mehrerer Observierungsmaßnahmen zur selben Zeit habe nicht zu einer Totalüberwachung geführt. Er sei unter Einsatz des GPS nur dann observiert worden, wenn er in dem Fahrzeug des S. mitgefahren sei. Andere Observierungsmaßnahmen hätten im Wesentlichen nur an den Wochenenden stattgefunden und sich nur in begrenztem Umfang auf das Abhören des gesprochenen Worts bezogen.
II. EinschlägigeS innerstaatlicheS Recht
29. § 100c Abs. 1 Nr. 1 wurde durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität vom 15. Juli 1992 in die Strafprozessordnung eingefügt. Die maßgeblichen Stellen des § 100c StPO in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung lauteten:
(1) Ohne Wissen des Betroffenen
1. dürfen
a) Lichtbilder und Bildaufzeichnungen hergestellt werden,
b) sonstige besondere für Observationszwecke bestimmte technische Mittel zur Erforschung des Sachverhalts oder zur Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters verwendet werden, wenn Gegenstand der Untersuchung eine Straftat von erheblicher Bedeutung ist, und
wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise weniger erfolgversprechend oder erschwert wäre,
2. darf
das nichtöffentlich gesprochene Wort mit technischen Mitteln abgehört und aufgezeichnet werden ...
(2) Maßnahmen nach Absatz 1 dürfen sich nur gegen den Beschuldigten richten. ... Maßnahmen nach Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe b ... dürfen gegen andere Personen nur angeordnet werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass sie mit dem Täter in Verbindung stehen oder eine solche Verbindung hergestellt wird, dass die Maßnahme zur Erforschung des Sachverhalts oder zur Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters führen wird und dies auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.“
30. Nach § 100d Abs. 1 StPO in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung bedurfte der Einsatz technischer Geräte zum Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Worts nach § 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO ebenso wie die Überwachung des Telefons einer Person (§ 100b Abs. 1 StPO) der Anordnung durch den Richter. Für Ermittlungen nach § 100c Abs. 1 Nr. 1 war jedoch nach dieser Bestimmung eine Anordnung durch den Richter nicht vorgeschrieben.
31. Nach § 101 Abs. 1 StPO ist eine Person, die von einer Maßnahme nach § 100c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StPO betroffen ist, von der getroffenen Maßnahme zu benachrichtigen, sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks, der öffentlichen Sicherheit, von Leib und Leben einer Person sowie der Möglichkeit der weiteren Verwendung eines bei der Maßnahme eingesetzten nicht offen ermittelnden Beamten geschehen kann.
32. Am 1. November 2000 trat § 163f StPO über die längerfristige planmäßig angelegte Observation von Beschuldigten in Kraft. Nach Absatz 1 dieser Bestimmung darf eine solche Observation, die durchgehend länger als 24 Stunden dauert oder an mehr als zwei Tagen stattfindet, nur in Bezug auf Personen, die einer Straftat von erheblicher Bedeutung beschuldigt werden, und nur dann angeordnet werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre. Die Maßnahme bedarf der Anordnung durch die Staatsanwaltschaft (Absatz 3). Nach Absatz 4 ist die Maßnahme auf höchstens einen Monat zu befristen; eine weitere Verlängerung kann nur durch den Richter angeordnet werden.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION
33. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine Observation unter Einsatz des GPS und die Kumulation mit verschiedenen weiteren Überwachungsmaßnahmen sowie die Verwertung der so erlangten Daten in dem gegen ihn geführten Strafverfahren sein Recht auf Achtung seines Privatlebens nach Artikel 8 der Konvention verletzt habe; Artikel 8, soweit maßgeblich, lautet:
„1. Jede Person hat ein Recht auf Achtung ihres Privat(...)lebens ...
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
34. Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
A) Zulässigkeit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Die Regierung
35. Die Regierung machte geltend, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg nicht dem Erfordernis aus Artikel 35 der Konvention entsprechend in vollem Umfang erschöpft habe. In dem innerstaatlichen Verfahren habe er die visuelle Observation, die allein einen Zusammenhang zwischen ihm und den durch die GPS-Überwachung gewonnen Daten hergestellt habe, weil dadurch beobachtet werden konnte, dass er das Fahrzeug des S. benutzte, an sich nicht gerügt. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer - abgesehen von der GPS-Überwachung - die Rechtmäßigkeit aller Überwachungs-maßnahmen, insbesondere die Telefonüberwachung, im innerstaatlichen Verfahren nicht gerügt.
36. Die Regierung vertrat ferner die Auffassung, dass der Beschwerdeführer nicht behaupten könne, in seinem Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Artikels 34 der Konvention verletzt zu sein. Die GPS-Observation des Fahrzeugs seines Mittäters S. habe keinen unmittelbaren persönlichen Bezug zum Beschwerdeführer gehabt.
b) Der Beschwerdeführer
37. Der Beschwerdeführer bestritt diese Auffassung. Er trug insbesondere vor, er habe den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft. Er wies darauf hin, dass er seine GPS-Überwachung, die zusätzlich zu gleichzeitig angewandten weiteren Überwachungsmethoden durchgeführt worden sei, sowohl vor den nationalen Gerichten als auch vor dem Gerichtshof gerügt habe und der Verwertung der durch seine Observation unter Einsatz des GPS gewonnenen Erkenntnisse als Beweismittel und nicht nur der Verwertung der eigentlichen GPS-Daten widersprochen habe. Darüber hinaus hatte er auch während des gesamten Verfahrens gerügt, dass er infolge der Kumulation verschiedener Überwachungsmaßnahmen über den Einsatz des GPS hinaus einer Totalüberwachung unterlag. Dies sei durch die Begründung der Entscheidungen der nationalen Gerichte, die sich mit seinen insoweit vorgetragenen Argumenten auseinandergesetzt und sie dann zurückgewiesen hätten, bestätigt worden.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
38. Der Gerichtshof merkt hinsichtlich des Gegenstands der bei ihm anhängig gemachten Rechtssache an, dass der Beschwerdeführer seine Observation unter Einsatz des GPS nach Artikel 8 gerügt hat. Er trug vor, dass diese Maßnahme für sich genommen wegen der Kumulation mit verschiedenen weiteren Überwachungsmaßnahmen sein Recht auf Achtung seines Privatlebens verletzt und jedenfalls gegen Artikel 8 verstoßen habe. Überdies rügte er die Verwertung der so erlangten Daten in dem gegen ihn geführten Strafverfahren. Der Beschwerdeführer hat - abgesehen von der GPS-Überwachung - die Rechtmäßigkeit der zusätzlichen Überwachungsmaßnahmen nicht gerügt. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer seine wie vorstehend vorgetragene Beschwerde bei dem Oberlandesgericht Düsseldorf, dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht erhoben hat; alle Gerichte haben zu der Beschwerde Stellung genommen und sie als unbegründet verworfen (siehe jeweils Randnrn. 14, 18-22 und 23-28). Demnach ist die Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen.
39. Hinsichtlich der Frage, ob der Beschwerdeführer behaupten kann, in seinem Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Artikels 34 der Konvention verletzt zu sein, obwohl nicht er persönlich, sondern das Fahrzeug seines Mittäters durch das GPS überwacht worden war, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass diese Frage eng mit dem wesentlichen Inhalt seiner Beschwerde nach Artikel 8 verbunden ist. Daher verbindet er die prozessuale Einrede der Regierung in diesem Punkt mit der Prüfung der Begründetheit der Rechtssache.
40. Der Gerichtshof stellt überdies fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B)Begründetheit
1. Gab es einen Eingriff in das Privatleben?
a) Die Vorbringen der Parteien
41. Nach Auffassung des Beschwerdeführers stellte seine Totalüberwachung durch das GPS einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens dar. Obwohl der GPS-Empfänger an einem Objekt (dem Fahrzeug des S.) angebracht worden war, sei er eingesetzt worden, um seine Bewegungen (und die des S.) festzustellen. Dadurch hätten die Ermittlungsbehörden mit einer