Rechtssache C‑4/05
Hasan Güzeli
gegen
Oberbürgermeister der Stadt Aachen
(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Aachen)
„Vorabentscheidungsersuchen – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates – Nichtverlängerung der Aufenthaltsgenehmigung eines türkischen Arbeitnehmers“
Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed vom 23. März 2006
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 26. Oktober 2006
Leitsätze des Urteils
1. Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Durch das Assoziierungsabkommen EWG–Türkei geschaffener Assoziationsrat – Beschluss Nr. 1/80 – Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Zugang von türkischen Arbeitnehmern, die dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören, zu einer von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in diesem Mitgliedstaat und entsprechendes Aufenthaltsrecht
(Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei, Artikel 6 Absatz 1)
2. Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Durch das Assoziierungsabkommen EWG–Türkei geschaffener Assoziationsrat – Beschluss Nr. 1/80 – Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Zugang von türkischen Arbeitnehmern, die dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören, zu einer von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in diesem Mitgliedstaat und entsprechendes Aufenthaltsrecht
(Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei, Artikel 6 Absätze 1 und 2)
1. Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei ist in dem Sinne auszulegen, dass sich ein türkischer Arbeitnehmer auf die ihm von dieser Vorschrift verliehenen Rechte nur berufen kann, wenn seine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis bei einem zweiten Arbeitgeber mit den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise in dessen Hoheitsgebiet und über die Beschäftigung vereinbar ist. Es ist Sache des nationalen Gerichts, die erforderlichen Feststellungen zu treffen, um zu klären, ob dies bei einem türkischen Arbeitnehmer, der vor Ablauf des in Artikel 6 Absatz 1 zweiter Gedankenstrich dieses Beschlusses vorgesehenen Dreijahreszeitraums den Arbeitgeber gewechselt hat, der Fall ist.
(vgl. Randnrn. 34, 36, 54 und Tenor)
2. Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei ist in dem Sinne auszulegen, dass Zeiträume der Unterbrechung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit oder langer Krankheit die Ansprüche, die ein türkischer Arbeitnehmer aufgrund vorher zurückgelegter Beschäftigungszeiten, deren Dauer jeweils in einem der drei Gedankenstriche des Absatzes 1 dieses Artikels festgelegt ist, bereits erworben hat, nicht berühren.
(vgl. Randnrn. 41-42, 55 und Tenor)
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
26. Oktober 2006(*)
„Vorabentscheidungsersuchen – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates – Nichtverlängerung der Aufenthaltsgenehmigung eines türkischen Arbeitnehmers“
In der Rechtssache C‑4/05
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgericht Aachen (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. Dezember 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Januar 2005, in dem Verfahren
Hasan Güzeli
gegen
Oberbürgermeister der Stadt Aachen
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter K. Lenaerts und K. Schiemann (Berichterstatter),
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn Güzeli, vertreten durch Rechtsanwalt R. Hofmann,
– der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und C. Schulze‑Bahr als Bevollmächtigte,
– der slowakischen Regierung, vertreten durch R. Procházka als Bevollmächtigten,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. März 2006
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG–Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Güzeli, einem türkischen Staatsangehörigen, und dem Oberbürgermeister der Stadt Aachen (im Folgenden: Oberbürgermeister) wegen dessen Weigerung, die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Güzeli zu verlängern.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsregelung
3 Artikel 6 Absätze 1 und 2 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat
– nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
– nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
– nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.“
4 Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft räumen den türkischen Arbeitnehmern, die ihrem regulären Arbeitsmarkt angehören, eine Regelung ein, die gegenüber den Arbeitnehmern aus der Gemeinschaft hinsichtlich des Arbeitsentgeltes und der sonstigen Arbeitsbedingungen jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausschließt.“
Nationale Regelung
5 Nach § 284 Absatz 5 des Dritten Buches des deutschen Sozialgesetzbuchs in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung durfte eine Arbeitsgenehmigung nur erteilt werden, wenn der Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung nach § 5 des Ausländergesetzes besaß.
6 Seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 ist eine Arbeitsgenehmigung als solche nicht mehr erforderlich. Die Frage, ob ein ausländischer Arbeitnehmer eine Beschäftigung ausüben darf, ergibt sich nunmehr unmittelbar aus der Aufenthaltsgenehmigung selbst.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
7 Dem Vorlagebeschluss ist zu entnehmen, dass Herr Güzeli, ein türkischer Staatsangehöriger, am 13. September 1991 in das deutsche Hoheitsgebiet einreiste.
8 Am 7. März 1997 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige. Am 29. Juli 1997 wurde ihm vom Oberbürgermeister eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Außerdem erteilte ihm das Arbeitsamt Aachen am 31. Juli 1997 eine Arbeitserlaubnis mit unbefristeter Geltungsdauer für berufliche Tätigkeiten jeder Art.
9 Am 19. Juni 1998 beantragte Herr Güzeli die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Am 8. Juli 1998 trennte er sich von seiner Ehefrau, und im Jahr 2002 wurde die Ehe geschieden.
10 Am 6. Januar 1999 verlängerte der Oberbürgermeister die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Güzeli zunächst bis 6. Dezember 1999 und anschließend bis 9. Oktober 2001 mit dem Hinweis, dass sich dieser auf ein Recht aus Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 berufen könne. Die Aufenthaltserlaubnis enthielt den Zusatz: „Selbständige Erwerbstätigkeit oder vergleichbare unselbständige Erwerbstätigkeit nicht gestattet. Arbeitserlaubnispflichtige Erwerbstätigkeit nur gestattet als Kellner im Café Marmara in Aachen“.
11 Am 25. September 2001 stellte Herr Güzeli einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.
12 Vom 1. Oktober 1997 bis 31. Dezember 1997, vom 1. Februar 1998 bis 31. März 1999 und vom 1. Juni 1999 bis 31. März 2000 war er in Aachen im Café Marmara bei den verschiedenen Unternehmen, die diesen Betrieb führten (im Folgenden zusammenfassend: Café Marmara), angestellt. Herr Güzeli war dort als Kellner beschäftigt.
13 Vom 10. April 2000 bis zum 14. Dezember 2000 sowie vom 1. März 2001 bis zum 30. November 2001 war Herr Güzeli in Aachen bei der Aachener Printen- und Schokoladenfabrik Henry Lambertz GmbH & Co. KG (im Folgenden: Lambertz) jeweils als Saisonarbeiter beschäftigt. In den Zwischenzeiträumen erhielt er Leistungen vom Arbeitsamt Aachen. Er bezog zu keinem Zeitpunkt Sozialhilfe.
14 Vom 2. April 2002 an, u. a. vom 23. November 2002 bis zum 5. Dezember 2003 sowie vom 2. Juni 2004 bis Saisonende 2004, war Herr Güzeli bei Lambertz beschäftigt.
15 Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 27. Juni 2002 wurde Herr Güzeli wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz in zwei Fällen zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er mit seiner Tätigkeit bei Lambertz gegen die mit seiner Aufenthaltserlaubnis verbundene Auflage verstoßen habe.
16 Am 2. Januar 2003 wurde der Antrag von Herrn Güzeli auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom Oberbürgermeister abgelehnt, und es wurde ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht. Der von Herrn Güzeli gegen diese Entscheidung erhobene Widerspruch wurde von der Bezirksregierung Köln mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juli 2004 zurückgewiesen. Am 9. August 2004 hat Herr Güzeli beim Verwaltungsgericht Aachen Klage erhoben.
17 Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Aachen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Verbietet es das Diskriminierungsverbot des Artikels 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem Mitgliedstaat, den weiteren Aufenthalt eines türkischen Arbeitnehmers in der Situation des Klägers, der im Zeitpunkt des Ablaufs der ihm ursprünglich erteilten nationalen Aufenthaltserlaubnis dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats angehörte und im Besitz eines unbefristeten Beschäftigungsrechts war, für die Dauer der Beschäftigung zu versagen?
Ist in diesem Zusammenhang erheblich, dass die dem türkischen Wanderarbeitnehmer erteilte Arbeitserlaubnis
– nach innerstaatlichem Recht ohne zeitliche Befristung erteilt wurde,
– nach innerstaatlichem Recht in Abhängigkeit vom Fortbestand der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war, sie aber nicht automatisch mit dem Ablauf der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsgenehmigung erlischt, sondern so lange Geltung hat, bis der Ausländer sich auch nicht mehr vorläufig im Mitgliedstaat aufhalten darf?
2. Ist es dem Mitgliedstaat im Licht des Artikels 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erlaubt, den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers zu versagen, wenn dieser nach dem Zeitpunkt des Ablaufs der ihm zuletzt erteilten Aufenthaltserlaubnis als Saisonarbeiter tätig, d. h. in den Zeiten zwischen den Beschäftigungen ohne Arbeit ist?
3. Hat eine nach dem Zeitpunkt des Ablaufs der ursprünglich erteilten Aufenthaltserlaubnis erfolgte Änderung der rechtlichen Ausgestaltung des nationalen Arbeitsgenehmigungsrechts Einfluss auf das aus Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 resultierende Verbot, den weiteren Aufenthalt zu versagen?
Zu den Vorlagefragen