Urteilskopf
133 IV 97
11. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)6S.561/2006 vom 17. Mai 2007
Regeste
Art. 286 und 305 Abs. 1 StGB; Hinderung einer Amtshandlung; Selbstbegünstigung. Wer in der Absicht, sich der Strafverfolgung zu entziehen, eine Polizeikontrolle vereitelt, ohne in den Gang einer hinreichend konkreten Amtshandlung einzugreifen, macht sich nicht nach Art. 286 StGB strafbar (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 6).
Sachverhalt ab Seite 97
BGE 133 IV 97 S. 97
A. Am 7. März 2006 erliess das Bezirksamt Zurzach gegen X. einen Strafbefehl wegen Hinderung einer Amtshandlung und Führens eines Fahrzeuges in nicht vorschriftsgemässem Zustand mit folgendem Wortlaut:"Durch zwei Beamte der Mobilen Einsatzpolizei wurde festgestellt, dass am Personenwagen des Beschuldigten die Fahrer- und die Beifahrerscheibe stark abgedunkelt waren. Als der Beschuldigte in der Folge BGE 133 IV 97 S. 98angehalten wurde, senkte er die zuvor hochgefahrene Fahrer- und Beifahrerscheibe. Anlässlich der Kontrolle verhielt sich der Beschuldigte äusserst unkooperativ, jähzornig und erbost. Er weigerte sich zudem die Fensterscheibe hochzufahren, damit durch die Polizei eine Fotografie hätte erstellt werden können. Mit einer Mängelkarte wurde der Beschuldigte aufgefordert, sein Fahrzeug in vorschriftsgemässen Zustand zu versetzen. Die Mängelkarte wurde bei der Weiterfahrt aus dem Fenster geworfen. Der Beschuldigte war bereits mit Strafbefehl vom 4. Juli 2005 wegen mit Folie getönter Seitenscheiben, vorne links und rechts, mit Busse bestraft worden."Gegen diesen Strafbefehl erhob X. Einsprache.
B. Das Bezirksgericht Zurzach erklärte X. mit Urteil vom 8. Juni 2006 wegen Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) sowie Führens eines Fahrzeuges in nicht vorschriftsgemässem Zustand (Art. 29 SVG, Art. 57 Abs. 1 VRV [SR 741.11] und Art. 71 Abs. 4 VTS [SR 741.41] i.V.m. Art. 93 Ziff. 2 Abs. 1 SVG) schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von 1'000 Franken als Zusatzstrafe zum Urteil des Bezirksamtes Zurzach vom 15. November 2005.
C. Das Obergericht des Kantons Aargau sprach X. - in teilweiser Gutheissung einer von ihm erhobenen Berufung - vom Vorwurf des Führens eines Fahrzeuges in einem nicht vorschriftsgemässem Zustand frei, verurteilte ihn hingegen nach Art. 286 StGB wegen Hinderung einer Amtshandlung zu einer Busse von 800 Franken als Zusatzstrafe zum Urteil des Bezirksamtes Zurzach vom 15. November 2005.
D. X. führt gegen das Urteil des Obergerichts vom 20. Oktober 2006 eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und das Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen.Das Bundesgericht heisst die Nichtigkeitsbeschwerde gut, soweit darauf einzutreten ist.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1 In tatsächlicher Hinsicht führt die Vorinstanz Folgendes aus: Am 4. Oktober 2005 liess der Beschwerdeführer die abgedunkelten Fahrer- und Beifahrerscheiben seines Personenwagens herunter, nachdem er eine Polizeipatrouille erblickt hatte. Den beiden Polizeibeamten im Dienst war die Abdunklung der Fensterscheiben (vorerst noch oben) aufgefallen, weshalb sie dem Fahrzeug des Beschwerdeführers folgten und ihn zum Anhalten aufforderten, was er BGE 133 IV 97 S. 99auch tat. Als die Beamten zur Kontrolle schritten, waren die beiden vorderen Fensterscheiben unten. Der Aufforderung, die Scheiben wieder hochzukurbeln, um das Fahrzeug auf seinen vorschriftsgemässen Zustand hin zu überprüfen und mittels Fotografie eine Beweisaufnahme durchzuführen, kam der Beschwerdeführer nicht nach. Aus dieser Weigerung und dem Umstand, dass er bereits vor drei Monaten wegen abgedunkelter Fahrer- und Beifahrerscheiben gebüsst worden war, zieht die Vorinstanz den tatsächlichen Schluss, dass er die Fensterscheiben nicht - wie von ihm behauptet - zum Lüften, sondern einzig zur Verhinderung der Beweiserstellung herunterliess und einer erneuten Verzeigung unbedingt entgehen wollte.Die Vorinstanz nimmt an, der Beschwerdeführer habe durch sein Verhalten eine Amtshandlung im Sinne von Art. 286 StGB gehindert. Unter Verweis auf das Urteil der ersten kantonalen Instanz führt sie zur Begründung aus, seine Weigerung anlässlich der konkreten Kontrolle sei als passiver Widerstand zu qualifizieren, dem ein Tätigwerden - namentlich das Herunterlassen der Fensterscheiben - vorausgegangen sei. Da feststehe, dass er einzig zum Zwecke der Verhinderung bzw. Erschwerung der Beweisaufnahme tätig geworden sei, habe er den Tatbestand von Art. 286 StGB objektiv und subjektiv erfüllt. Das blosse Motiv der Selbstbegünstigung vermöge weitere, mit der Selbstbegünstigung einhergehende Delikte nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht zu rechtfertigen.
3.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe die Polizeibeamten durch sein Verhalten nicht gehindert. Die Weigerung (bei der konkreten Kontrolle), die Scheiben auf Geheiss wieder hochzufahren, stelle eine Unterlassung dar, die mangels Garantenstellung gegenüber dem Staat nicht strafbar sein könne. Demgegenüber sei das Herunterlassen der Fensterscheiben (vor der Kontrolle) eine "straflose Vorbereitungshandlung", weil die Beamten im Zeitpunkt seines Handelns noch gar nicht den Entschluss gefasst hätten, eine Fotografie zu erstellen. Die Widersetzung sei gerechtfertigt. Das staatliche Interesse der Strafverfolgung habe vor seinem Selbstbegünstigungsinteresse zurückzutreten, was sich aus der bundesgerichtlichen Praxis und Art. 6 EMRK bzw. dem allgemeinen Rechtsgrundsatz "nemo tenetur se ipse accusare" ergebe.
4.
4.1 Gemäss Art. 286 StGB wird wegen Hinderung einer Amtshandlung mit Gefängnis bis zu einem Monat oder mit Busse bestraft, wer BGE 133 IV 97 S. 100eine Behörde, ein Mitglied einer Behörde oder einen Beamten an einer Handlung hindert, die innerhalb ihrer Amtsbefugnisse liegt.
4.2 Der Täter hindert im Sinne von Art. 286 StGB, wenn er eine Amtshandlung ohne Gewalt beeinträchtigt, so dass diese nicht reibungslos durchgeführt werden kann (BGE 103 IV 186 E. 2). Dabei ist nicht erforderlich, dass er die Handlung einer Amtsperson gänzlich verhindert. Vielmehr genügt, dass er deren Ausführung erschwert, verzögert oder behindert (BGE 127 IV 115 E. 2 mit Hinweisen). In Bezug auf die Art der bereiteten Hindernisse oder die verwendeten Tatmittel enthält der Gesetzestext keinerlei Einschränkung (BGE 85 IV 142 E. 2 S. 143 mit Verweis auf die Gesetzesmaterialien).Ob und inwieweit eine Amtshandlung auch durch Unterlassen gehindert werden kann, ist umstritten. Die Lehre nimmt überwiegend an, dass grundsätzlich nur ein aktives Störverhalten den Tatbestand erfüllt. Eine Ausnahme dürfte nur dort gelten, wo eine Garantenpflicht bestehe, die Amtshandlung zu fördern und ein zuvor geschaffenes Hindernis zu beseitigen (siehe GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II, 5. Aufl., Bern 2000, § 50 N. 10; DONATSCH/WOHLERS, Strafrecht IV, 3. Aufl., Zürich 2004, S. 309 f. und 318; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, Art. 286 N. 4).Das Bundesgericht hat in seiner älteren Praxis ein tatbestandsmässiges Verhalten etwa erkannt in der Weigerung des Täters, den die Radarkontrolle störenden Wagen wegzustellen (BGE 95 IV 172). Jüngere Entscheide heben hervor, der Tatbestand erfordere eine Widersetzlichkeit, die sich in gewissem Umfang in einem aktiven Tun ausdrücke. Der blosse Ungehorsam scheide aus. Wer sich darauf beschränke, einer amtlichen Aufforderung nicht Folge zu leisten oder am Ort der Ausführung gegen die Art der Amtshandlung Einsprache zu erheben, ohne in dieselbe einzugreifen, werde nicht nach Art. 286 StGB bestraft (BGE 127 IV 115 E. 2; BGE 124 IV 127 E. 3a; BGE 120 IV 136 E. 2a mit zahlreichen Hinweisen). Im zuletzt genannten Entscheid prüfte das Bundesgericht, ob eine Amtshandlung auch durch rein passives Verhalten, also ein Unterlassen, gehindert werden kann, und hat dies mangels Rechtspflicht zum Handeln verneint für den untätig gebliebenen Passagier eines Fahrzeuges, dessen Lenker eine Polizeisperre durchbrach (E. 2b).
4.3 Im hier zu beurteilenden Fall hat der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Polizeikontrolle eine Handlung vorgenommen, indem BGE 133 IV 97 S. 101er die Fensterscheiben senkte, und verhielt sich alsdann passiv, indem er der Aufforderung zum Hochkurbeln der Scheiben nicht Folge leistete. Das zweite Verhalten in Form des Unterlassens war letztlich der Grund dafür, dass die beabsichtigte Beweisaufnahme durch die Polizei nicht durchgeführt werden konnte. Da deren Anweisung, die Fensterscheiben wieder hochzukurbeln, der Kontrolle der Betriebssicherheit des Fahrzeuges und damit der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit im Strassenverkehr diente, stellt sie eine polizeiliche Weisung im Sinne von Art. 27 Abs. 1 SVG dar (vgl. BGE 114 IV 154 E. 2c S. 158). Aus der genannten Rechtsnorm und deren Zweck liesse sich aber wohl kaum ableiten, dass der Verkehrsteilnehmer allgemein verpflichtet ist, die Polizei bei der Fahrzeugkontrolle zu unterstützen und zuvor geschaffene Hindernisse zu beseitigen (vgl. TRECHSEL, a.a.O., Art. 286 N. 4), doch kommt der Frage hier keine entscheidende Bedeutung zu. Entscheidend ist vielmehr, dass der Beschwerdeführer