Urteilskopf
138 IV 124
18. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft Oberwallis (Beschwerde in Strafsachen)6B_518/2011 vom 14. Mai 2012
Regeste
Art. 117 und 237 Ziff. 2 StGB; fahrlässige Tötung; fahrlässige Störung des öffentlichen Verkehrs; Lawinenniedergang. Verkehrssicherungspflicht des Pisten- und Rettungschefs in einem Skigebiet. Anforderungen an die Sorgfaltspflichten bei der Beurteilung der Lawinengefahr im Hinblick auf die Sperrung von Skipisten (E. 4.4).
Sachverhalt ab Seite 124
BGE 138 IV 124 S. 124
A. Am 19. Januar 2008 gegen 14.30 Uhr gingen im Skigebiet "Rothorn paradise" auf der rund 500 Meter hohen Flanke zwischen Oberrothorn und dem nordwestlich davon gelegenen Punkt 3242 spontan zwei Lawinen nieder. Das Anrissgebiet der ersten, nördlicheren und ca. 750 Meter langen Lawine im Gebiet "Chummenchlene" befand sich auf etwa 3100 m.ü.M. Die Lawinen verschütteten die nicht gesperrte Piste Nr. 14/15 "Tufterchumme". A. befand sich auf dieser Piste und wurde durch die erste Lawine erfasst und verschüttet. Er konnte ausgegraben und ins Spital Visp geflogen werden, jedoch überlebte er nicht. X. war Pisten- und Rettungschef Nord der Zermatt Bergbahnen AG.
B. Das Bezirksgericht Visp sprach X. mit Urteil vom 25. November 2009 vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs frei.Eine von der Staatsanwaltschaft Oberwallis dagegen erhobene Berufung hiess das Kantonsgericht Wallis mit Urteil vom 30. Juni 2011 gut. Es sprach X. der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs schuldig und verpflichtete ihn, 120 BGE 138 IV 124 S. 125Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. Den Vollzug der Strafe schob es bei einer Probezeit von zwei Jahren auf.
C. X. führt Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht. Er beantragt, er sei vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs freizusprechen.
D. Das Kantonsgericht Wallis und die Staatsanwaltschaft Oberwallis beantragen in ihren Vernehmlassungen, die Beschwerde sei abzuweisen. Mit Eingabe vom 27. April 2012 nahm X. sein Recht zur Replik wahr.Aus den Erwägungen:
Erwägungen
4.
4.4.1 Bei Lawinenunfällen steht die Frage nach der Voraussehbarkeit der Lawinengefahr respektive nach der Wahrscheinlichkeit eines Lawinenniedergangs im Vordergrund. Diese Frage muss aus der Sicht des Verantwortlichen für die Lawinensicherheit im Zeitpunkt vor dem Unfall beantwortet werden (GIUSEP NAY, Der Lawinenunfall aus der Sicht des Strafrichters, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung in Graubünden [ZGRG] 13/1994 S. 57). Das Skigebiet "Rothorn paradise" befindet sich im südlichen Oberwallis. Das Lawinenbulletin Nr. 72 für den Samstag, 19. Januar 2008, wurde vom Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung (nachfolgend: SLF) am Vortag um 17.00 Uhr mit der Überschrift "Mit markanter Erwärmung heikle Lawinensituation" herausgegeben. Es hielt insbesondere fest, am ungünstigsten sei der Aufbau der Schneedecke unter anderem im südlichen Oberwallis. In der Schneedecke seien kantig aufgebaute Schichten mit nur wenig Festigkeit eingelagert. Spontane oder künstliche Lawinenauslösungen seien nach wie vor möglich. Die Nullgradgrenze steige im Westen gegen 3000 m.ü.M. Es bestehe eine erhebliche Lawinengefahr (Stufe 3). Mit der Erwärmung und Sonneneinstrahlung steige die Auslösebereitschaft von Lawinen im Tagesverlauf an. Im südlichen Oberwallis befänden sich die Gefahrenstellen an Steilhängen aller Expositionen oberhalb von 1800 m.ü.M.Der Begriff der Lawinengefahr beinhaltet die Eintretenswahrscheinlichkeit und das mögliche Ausmass von Lawinen in einer Region. Die Gefahr von spontanen Lawinen bei "erheblicher Gefahr" wird folgendermassen beschrieben: "(...) Die Gefahr von spontanen Lawinenabgängen kann sehr unterschiedlich sein: Bei schwachem Schneedeckenaufbau und geringen Schneehöhen muss nur fallweise mit BGE 138 IV 124 S. 126Lawinen mittleren Ausmasses gerechnet werden. Wird die Stufe bei Neuschneesituationen oder in Verbindung mit der (tageszeitlich bedingten) Erwärmung ausgegeben, so muss je nach Witterungseinfluss vereinzelt aber auch mit grossen Abgängen gerechnet werden. Dies bedingt in der Folge Sprengaktionen (v.a. bei Neuschnee) oder zeitlich befristetes Sperren (v.a. bei Erwärmung) für exponierte Teile von Verkehrswegen und vor allem im Bereich der zu sichernden Schneesportabfahrten. (...)" (vgl. Gutachten des SLF vom 1. Dezember 2008; Interpretationshilfe des SLF zum Lawinenbulletin, 11. Ausgabe 2011 [nachfolgend: Interpretationshilfe]).
4.4.2 Die Vorinstanz zieht ein Gutachten vom SLF vom 1. Dezember 2008 inklusive Ergänzungsgutachten heran. Die Expertise setzt sich mit den örtlichen Gegebenheiten und den Verhältnissen am Unfalltag sowie in der Zeit davor ausführlich auseinander. Der Gutachter gelangt zum Ergebnis, dass sich die Verantwortlichen "weitgehend korrekt" verhalten hätten, auch wenn sie die sich verschärfende Lawinengefahr "etwas spät" erkannt hätten. Die Verspätung sei "zu einem gewissen Grad verständlich". Ihnen sei zugutezuhalten, dass die sehr markante Erwärmung für den Monat Januar eher nicht alltäglich sei.
4.4.3 Indem die Vorinstanz im Rahmen der Beweiswürdigung die im Unfallzeitpunkt herrschende meteorologische Situation nicht zu Gunsten des Beschwerdeführers wertet, weicht sie von der Einschätzung des SLF ab. Es fragt sich, ob dazu triftige Gründe bestehen (vgl. B