Abtei lung I
A-2220/2008 und A-2221/2008
{T 0/2}
U r t e i l v o m 1 2 . M a i 2 0 1 0
Richter Daniel de Vries Reilingh (Vorsitz),
Richter Pascal Mollard, Richter Daniel Riedo,
Gerichtsschreiber Jürg Steiger.
X._______,
Beschwerdeführerin
gegen
Eidgenössische Steuerverwaltung ESTV,
Hauptabteilung Mehrwertsteuer, Schwarztorstrasse 50,
3003 Bern,
Vorinstanz.
Mehrwertsteuer (1. Quartal 1999 bis 4. Quartal 2000 und
1. Quartal 2001 bis 2. Quartal 2004).
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l
T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l
Parteien
Gegenstand
Besetzung
A-2220/2008 und A-2221/2008
Sachverhalt:
A.
Die X._______ (hiernach: Beschwerdeführerin oder Bank) ist eine
Aktiengesellschaft. Sie ist im Register der Mehrwertsteuerpflichtigen
bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) eingetragen.
B.
Anlässlich einer Kontrolle stellte die ESTV unter anderem fest, dass
die Bank gewisse Bezüge von Dienstleistungen (Verwahrung von Gold
im Ausland) aus dem Ausland nicht versteuerte. Mit Ergänzungs-
abrechnung (EA) Nr. 140'591 vom 5. Oktober 2004 über die Steuer-
perioden vom 1. Quartal 1999 bis 4. Quartal 2000 wurde u.a.
Fr. 34'893.70 für die Verwahrung von Gold im Ausland (Ziff. 2b der EA
Nr. 140'591) nachbelastet. Mit EA Nr. 140'592 vom 5. Oktober 2004
über die Steuerperioden vom 1. Quartal 2001 bis 2. Quartal 2004
wurden zudem weitere Fr. 80'403.45 MWST für die Verwahrung von
Gold im Ausland (Ziff. 2b der EA Nr. 140'592) nachgefordert. Mit zwei
separaten Entscheiden vom 15. Dezember 2004 und entsprechenden
Einspracheentscheiden vom 19. Februar 2008 bestätigte die ESTV
diese Nachforderungen. Sie erwog, bei der Verwahrung von Gold im
Ausland handle es sich um steuerbare Bezüge von Dienstleistungen
von Unternehmen mit Sitz im Ausland.
C.
Die Bank führte am 7. April 2008 gegen die beiden Einspracheent-
scheide vom 19. Februar 2008 je separat Beschwerde mit dem Antrag,
die Einspracheentscheide seien aufzuheben und es sei festzustellen,
dass sie auf den an ausländische Banken zur Lagerung von Gold im
Ausland zu zahlenden Gebühren keine Mehrwertsteuer zu entrichten
habe. Sie beantragte weiter, die von ihr bezahlte Mehrwertsteuer sei
ihr nebst Vergütungszins von 5% zurückzuerstatten – unter Kosten-
und Entschädigungsfolge. Sie begründete ihre Beschwerden damit,
dass es sich bei der Lagerung von Gold nicht um eine Dienstleistung
handle, sondern um ein Lagergeschäft, womit das Erbringerorts- oder
das Tätigkeitsortsprinzip anwendbar sei. Die bezahlten Leistungen
seien somit mehrsteuerrechtlich nicht zu versteuern.
Die ESTV schloss in ihren Vernehmlassungen auf kostenfällige Ab-
weisung der Beschwerden.
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Auf die weiteren Eingaben und Vorbringen der Parteien wird, soweit
entscheiderheblich, in den Erwägungen eingegangen.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni
2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Be-
schwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom
20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG,
SR 172.021), sofern keine Ausnahme nach Art. 32 VGG gegeben ist.
Eine solche liegt nicht vor und die ESTV ist eine Behörde im Sinne von
Art. 33 VGG. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher für die Be-
urteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig. Soweit das VGG
nichts anderes bestimmt, richtet sich gemäss dessen Art. 37 das Ver-
fahren nach dem VwVG.
1.2 Das Bundesverwaltungsgericht kann die angefochtenen Entschei-
de grundsätzlich in vollem Umfang überprüfen. Die Beschwerde-
führerin kann neben der Verletzung von Bundesrecht (Art. 49 Bst. a
VwVG) und der unrichtigen oder unvollständigen Feststellung des
rechtserheblichen Sachverhalts (Art. 49 Bst. b VwVG) auch die Rüge
der Unangemessenheit erheben (Art. 49 Bst. c VwVG; vgl. ANDRÉ
MOSER/MICHAEL BEUSCH/LORENZ KNEUBÜHLER, Prozessieren vor dem
Bundesverwaltungsgericht, Basel 2008, Rz. 2.149).
1.3 Am 1. Januar 2010 ist das Mehrwertsteuergesetz vom 12. Juni
2009 (MWSTG, SR 641.20) in Kraft getreten. Die bisherigen gesetz-
lichen Bestimmungen sowie die darauf gestützt erlassenen Vor-
schriften bleiben grundsätzlich weiterhin auf alle während ihrer
Geltungsdauer eingetretenen Tatsachen und entstandenen Rechts-
verhältnisse anwendbar (Art. 112 Abs. 1 MWSTG). Soweit der Sach-
verhalt vom 1. Januar 2001 bis 30. Juni 2004 betroffen ist, untersteht
das vorliegende Verfahren deshalb in materieller Hinsicht dem
Bundesgesetz vom 2. September 1999 über die Mehrwertsteuer
(aMWSTG, AS 2000 1300). Für die Zeit vom 1. Januar 1999 bis
31. Dezember 2000 finden ferner die Bestimmungen der Verordnung
vom 22. Juni 1994 über die Mehrwertsteuer (aMWSTV, AS 1994 1464)
Anwendung (Art. 93 und 94 aMWSTG).
Demgegenüber ist das neue mehrwertsteuerliche Verfahrensrecht im
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Sinne von Art. 113 Abs. 3 MWSTG auf sämtliche im Zeitpunkt des In-
krafttretens hängige Verfahren anwendbar. Allerdings ist Art. 113
Abs. 3 MWSTG insofern restriktiv auszulegen, als gemäss höchst-
richterlicher Rechtsprechung nur eigentliche Verfahrensnormen sofort
auf hängige Verfahren anzuwenden sind, und es dabei nicht zu einer
Anwendung von neuem materiellen Recht auf altrechtliche Sachver-
halte kommen darf (ausführlich: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
A-1113/2009 vom 23. Februar 2010 E. 1.3.3.2). Kein Verfahrensrecht in
diesem engen Sinn stellt im vorliegenden Fall etwa das Selbstver-
anlagungsprinzip dar, so dass vorliegend diesbezüglich noch altes
Recht anwendbar ist. Keine Anwendung finden deshalb beispielsweise
Art. 70, 71, 72 oder 79 MWSTG, obwohl sie unter dem Titel "Ver-
fahrensrecht für die Inland- und die Bezugsteuer" stehen (Urteile des
Bundesverwaltungsgerichts A-4360/2008 vom 4. März 2010 E. 1.2, A-
4146/2009 vom 9. März 2010 E. 1.3).
1.4 Grundsätzlich bildet jeder vorinstanzliche Entscheid ein selb-
ständiges Anfechtungsobjekt und ist deshalb einzeln anzufechten. Es
ist gerechtfertigt, von diesem Grundsatz abzuweichen und die An-
fechtung in einem gemeinsamen Verfahren mit einem einzigen Urteil
zuzulassen, wenn die einzelnen Sachverhalte in einem engen inhalt-
lichen Zusammenhang stehen und sich in allen Fällen gleiche oder
ähnliche Rechtsfragen stellen (vgl. BGE 123 V 215 E. 1; Urteile des
Bundesverwaltungsgerichts A-1527/2006 vom 6. März 2008 E. 1.3, A-
1435/2006 vom 8. Februar 2007 E. 1.2, A-1536/2006 vom 16. Juni
2008 E. 1.3). Unter den gleichen Voraussetzungen können auch ge-
trennt eingereichte Beschwerden in einem Verfahren vereinigt werden.
Ein solches Vorgehen dient der Verfahrensökonomie und liegt im
Interesse aller Beteiligten (MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER, a.a.O., Rz. 3.17).
Diese Voraussetzungen sind in den vorliegenden Verfahren zweifelsfrei
erfüllt. In beiden Fällen ist dasselbe Steuersubjekt, die Beschwerde-
führerin, betroffen. Die den Einspracheentscheiden zugrunde
liegenden Sachverhalte sind identisch und es stellen sich dieselben
Rechtsfragen (Beurteilung der Lagerung von Gold im Ausland). Deren
Besonderheit ist einzig die unmassgebliche Tatsache, dass die be-
troffenen Steuerperioden einerseits die aMWSTV und andererseits
das aMWSTG betreffen. Dementsprechend hat der Vertreter der Be-
schwerdeführerin die besagten Einspracheentscheide auch mit
identischen Argumenten angefochten. Die Verfahren A-2220/2008 und
A-2221/2008 sind deshalb zusammenzulegen.
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2.
2.1 Der Bezug von Dienstleistungen gegen Entgelt aus dem Ausland
(Art. 4 Bst. d aMWSTV) bzw. von Unternehmen mit Sitz im Ausland
(Art. 5 Bst. d aMWSTG) unterliegt grundsätzlich der Mehrwertsteuer,
sofern die Umsätze nicht ausdrücklich (nach Art. 14 aMWSTV bzw.
Art. 18 aMWSTG) von der Steuer ausgenommen sind (Urteil des
Bundesgerichts 2C_309/2009 vom 1. Februar 2010 E. 4.1).
2.1.1 Steuersubjekt ist der Leistungsempfänger, der im Inland Wohn-
sitz, Geschäftssitz oder eine Betriebsstätte hat. Dieser hat den Bezug
von Dienstleistungen aus dem Ausland zu versteuern, wenn er diese
zur Nutzung oder Auswertung im Inland verwendet und wenn er nach
Art. 18 aMWSTV mehrwertsteuerpflichtig ist (Art. 9 aMWSTV).
Art. 9 aMWSTV verlangt, dass die Dienstleistung zur Nutzung oder
Auswertung im Inland verwendet wird. Insofern besteht Kongruenz
zwischen Dienstleistungsimport und Dienstleistungsexport. Ein
Dienstleistungsexport liegt nach Art. 15 Abs. 2 Bst. l aMWSTV dann
vor, wenn steuerbare Dienstleistungen an Empfänger mit Geschäfts-
oder Wohnsitz im Ausland erbracht werden, sofern sie dort "zur
Nutzung oder Auswertung verwendet werden". Entscheidend ist stets
die tatsächliche Verwendung der Dienstleistung (Urteil des Bundes-
gerichts 2A.541/2006 vom 21. Februar 2007 E. 2.1.2, veröffentlicht in:
Steuer-Revue [StR] 62/2007 S. 590; Urteil des Bundesgerichts
2C_309/2009 vom 1. Februar 2010 E. 4.2.1). Die in Art. 12 Abs. 2
aMWSTV unter Bst. c aufgeführten Dienstleistungen werden jedoch
am Ort ausgeführt, wo der Dienstleistende jeweils tatsächlich tätig
wird. Es handelt sich um Nebentätigkeiten des Transportgewerbes, wie
Beladen, Entladen, Umschlagen, Lagerung und Ähnlichem.
2.1.2 Gemäss Art. 10 Bst. a aMWSTG hat der Empfänger den Bezug
einer Dienstleistung zu versteuern, wenn er nach Art. 24 aMWSTG
steuerpflichtig ist und sofern es sich um eine unter Art. 14 Abs. 3
aMWSTG fallende Dienstleistung handelt, die ein im Inland nicht
steuerpflichtiger Unternehmer mit Sitz im Ausland im Inland erbringt.
Während als Ort einer Dienstleistung in der Regel der Ort gilt, an dem
die Dienst leistende Person den Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit
oder eine Betriebsstätte hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht
wird (Erbringerortsprinzip), gelten die in Art. 14 Abs. 3 aMWSTG
aufgeführten Dienstleistungen ausnahmsweise als an jenem Ort
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ausgeführt, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen
Tätigkeit oder eine Betriebsstätte hat, für welche die Dienstleistungen
erbracht werden (Empfängerortsprinzip; vgl. BGE 133 II 153 E. 5.1;
Urteil des Bundesgerichts 2A.677/2006 vom 16. Mai 2007 E. 5.1; Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts A-1416/2006 vom 27. September
2007 E. 2.2). Zu diesen Dienstleistungen zählen insbesondere auch
Leistungen von Beratern, Vermögensverwaltern, Treuhändern,
Ingenieuren, Anwälten, Notaren, Buchprüfern, Managementdienst-
leistungen sowie sonstige ähnliche Leistungen (Bst. c). Diese Rege-
lung geht darauf zurück, dass es bei gewissen Dienstleistungen
unmöglich ist, den Ort der Nutzung genau zu bestimmen (vgl. BGE
133 II 153 E. 5.1 in fine).
Die in Art. 14 Abs. 2 aMWSTG unter Bst. c aufgeführten
Dienstleistungen werden hingegen am Ort ausgeführt, wo die Dienst
leistende Person jeweils tatsächlich tätig wird (Ort der Tätigkeit als
Ausnahme), nämlich bei Nebentätigkeiten des Transportgewerbes, wie
Beladen, Entladen, Umschlagen, Lagerung und Ähnlichem.
2.1.3 Art. 15 Abs. 2 Bst. a und l aMWSTV und Art. 14 Abs. 3 aMWSTG
verwirklichen das im grenzüberschreitenden Waren- und
Dienstleistungsverkehr geltende Bestimmungslandprinzip. Dieses
Prinzip besagt, dass eine Leistung dort besteuert wird, wo sie
konsumiert und verbraucht wird. Das Bestimmungslandprinzip verlangt
damit die Befreiung der Exporte und die Belastung der Importe
(Urteile des Bundesverwaltungsgerichts A-1361/2006 vom 19. Februar
2007 E. 5.4 und A-1505/2006 vom 25. September 2008 E. 3.1.3;
Entscheide der Eidgenössischen Steuerrekurskommission [SRK] vom
31. Mai 2001, veröffentlicht in Verwaltungspraxis der Bundesbehörden
[VPB] 65.105 E. 3d/aa, vom 2. November 2004, veröffentlicht in VPB
69.64 E. 2b; JÖRG R. BÜHLMANN, in , a.a.O., Vorbemerkung zu
Art. 19 N 1; DANIEL RIEDO, Vom Wesen der Mehrwertsteuer als
allgemeine Verbrauchsteuer und von den entsprechenden Wirkungen
auf das schweizerische Recht, Bern 1999, S. 62).
Das Bestimmungslandprinzip führt dazu, dass die Inlandumsatzsteuer
durch eine Steuer auf der Einfuhr zu ergänzen ist. Es gewährleistet auf
diese Weise Wettbewerbsneutralität auf inländischen Märkten, weil
eingeführte Leistungen derselben Mehrwertsteuerbelastung unter-
liegen wie Inlandleistungen (vgl. RIEDO, a.a.O., S. 49). Die
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schweizerische Mehrwertsteuer wird so gemäss ihrem Konzept als
Netto-Allphasensteuer mit Vorsteuerabzug auf allen Stufen der
Produktion und Verteilung sowie bei der Einfuhr von Verbrauchsgütern
erhoben. Dabei soll auch bei der Steuer auf der Einfuhr der
vorsteuerabzugsberechtigte Steuerpflichtige nicht zum Träger der
Steuer werden, sondern lediglich der Endverbraucher (Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts A-1689/2006 vom 13. August 2007
E. 2.3.1; Entscheid der Eidgenössischen Zollrekurskommission [ZRK]
vom 21. Januar 1999 [ZRK 1998-003] E. 3b; RIEDO, a.a.O., S. 5 und
16). Art. 29. Abs. 1 Bst. b aMWSTV und Art. 38 Abs. 1 Bst. b aMWSTG
geben dem Steuerpflichtigen deshalb das Recht, die (effektiv)
entrichtete Steuer auf der Einfuhr als Vorsteuer in Abzug zu bringen
(Kommentar des Eidgenössischen Finanzdepartements [EFD] zur
[a]MWSTV vom 22. Juni 1994, zu Art. 29 Abs. 1 Bst. c aMWSTV).
Voraussetzung ist natürlich auch hier, dass die eingeführten
Gegenstände und Dienstleistungen im Zusammenhang mit einem den
Vorsteuerabzug berechtigenden, geschäftsmässig begründeten Zweck
verwendet werden (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-
1359/2006 vom 26. Juli 2007 E. 5.2). Gemäss Art. 29 Abs. 6 Bst. b
aMWSTV und Art. 38 Abs. 7 Bst. b aMWSTG entsteht der Anspruch
auf Abzug der Vorsteuer bei der Steuer auf dem Bezug von
Dienstleistungen von Unternehmen mit Sitz im Ausland im Zeitpunkt,
in welchem der Steuerpflichtige über diese Steuer mit der ESTV
abrechnet.
2.1.4 Sinn und Zweck der Besteuerung von Dienstleistungsimporten
ist eine umfassende und rechtsgleiche Erfassung von Leistungen im
Inland und damit auch die Vermeidung ungerechtfertigter
Wettbewerbsvorteile ausländischer Anbieter. Das Bundesgericht